Durch die Impfung bringen hohe Inzidenzen das Gesundheitssystem nicht mehr so schnell an seine Grenzen. Doch vor allem die Erstimpfungen sind in den vergangenen Tagen zurückgegangen.

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Die Zahlen steigen, und sie steigen schnell: Diesen Montag lag die Sieben-Tage-Inzidenz bei 25 – das bedeutet, dass in den letzten sieben Tagen 25 Infektionen pro 100.000 Einwohner registriert wurden. Vergangene Woche waren es noch elf.

"Die Verdopplungszeit liegt damit unter einer Woche", sagt der Komplexitätsforscher Stefan Thurner, der als Mitglied des Covid-Prognose-Konsortiums Prognosen für das Gesundheitsministerium erstellt. "Schon Ende des Monats sind 1.000 Neuinfektionen pro Tag möglich." Eines, so scheint es, steht damit fest: Die vierte Welle hat begonnen.

Die Inzidenzen liegen derzeit in etwa so hoch wie im vergangenen September. Folgt diesmal auf die hohen Infektionszahlen nur ein leichter Anstieg der Hospitalisierungen?

Derzeit ist die Inzidenz in etwa so hoch wie Anfang September des vergangenen Jahres. Nachdem die Zahlen im Herbst rasant angestiegen waren, gelangten die Krankenhäuser ans Limit: Um die Versorgung von Notfällen sicherzustellen, mussten planbare Operationen verschoben werden. Diesmal beginnt der Anstieg im Sommer sogar noch früher. Dennoch ist etwas entscheidend anders: 58 Prozent der Gesamtbevölkerung sind zumindest einmal geimpft, fast 46 Prozent sind vollständig immunisiert.

Das wirft mehrere Fragen auf: Löst die Welle an Neuinfektionen diesmal nur einen leichten Anstieg an Hospitalisierungen aus? Verlieren hohe Infektionszahlen damit an Schrecken? Und wird die Inzidenz als zentrale Kennzahl der Epidemie womöglich zunehmend irrelevant?

Aufnahmerate auf Intensivstation bei 1,1 Prozent

In Österreich müssen nun deutlich weniger Corona-Infizierte im Krankenhaus behandelt werden als im Herbst oder Frühjahr. "Wir sehen, dass die Hospitalisierungsraten sukzessive sinken", sagt Florian Bachner von der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG), die wöchentlich Krankenhauseinweisungen aufgrund von Corona erfasst. Während im Februar noch 4,26 Prozent der Neuerkrankten ins Spital eingeliefert werden mussten, betrug die Hospitalisierungsrate auf Normalstationen Anfang Juli nur mehr 3,2 Prozent, die Aufnahmerate auf Intensivstationen ist in diesem Zeitraum von 1,4 auf 1,1 Prozent gesunken.

Auch in Israel und Großbritannien, wo bereits 61 bzw. 53 Prozent geimpft sind, sanken die Hospitalisierungsraten stark. Für Geimpfte ist das Virus weit weniger gefährlich geworden. Auch wenn der Infektionsschutz bei der Delta-Variante abnimmt, verhindern die Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Astra Zeneca Krankenhauseinweisungen zu über 90 Prozent.

Durch die Impfung bringen hohe Inzidenzen das Gesundheitssystem nicht mehr so schnell an seine Grenzen. Da sind sich Fachleute einig. Wie sehr sich das Infektionsgeschehen dadurch vom Erkrankungsgeschehen entkoppeln wird, ist aber nicht klar.

Im bisherigen Pandemieverlauf haben sich die Hospitalisierungsraten im Vergleich zur ersten Pandemiephase im Frühjahr 2020 in etwa halbiert – und sie nahmen ab, bevor es einen Effekt durch die Impfungen gab. Der Grund dafür ist, so schreibt die GÖG in einem Bericht, dass nun vermehrt getestet wird, die Dunkelziffer geht dadurch zurück. Dass die hohe Anzahl an Testungen derzeit allein für die niedrigen Hospitalisierungsraten verantwortlich ist, ist mehr als unwahrscheinlich. Jedoch zeigt das, wie schwer es ist, den Einfluss unterschiedlicher Faktoren auf die Hospitalisierungsrate zu beziffern. Die Testrate ist nur einer davon.

Unterschiedliche Faktoren beeinflussen die Hospitalisierungsrate

Für den Herbst hat das Covid-Prognose-Konsortium verschiedene Szenarien modelliert: Im besten Szenario kommt es ab 13.000 täglichen Neuinfektionen zu einer Überlastung des Gesundheitssystems, im schlechtesten liegt die kritische Grenzen bei 6.800 Neuinfektionen pro Tag.

In beiden Fällen gehen die Experten und Expertinnen von niedrigen Aufnahmeraten auf den Intensivstationen aus – sie liegen bei 0,4 und 0,8 Prozent. Ob diese Raten überhaupt eintreten, hängt jedoch von zwei Faktoren ab, die nur schwer vorherzusagen sind.

Erstens ist dafür entscheidend, wie viele Menschen sich am Ende impfen lassen werden. In allen Szenarien ist das Konsortium von einer Vollimmunisierungsrate von mindestens 60 Prozent der Gesamtbevölkerung ausgegangen. Gerade die Erstimpfungen sind in den vergangenen Tagen aber zurückgegangen – Tendenz weiter sinkend.

"Wir haben derzeit drei Millionen Menschen, die nicht geimpft sind. Das ist verdammt viel Frischfleisch für das Virus", sagt Stefan Thurner. "Bleibt es dabei, ist es möglich, dass es wieder zu einer Überlastung des Gesundheitssystems kommt."

Delta als Unbekannte

Zweitens bleibt auch bei einer hohen Durchimpfungsrate die Zahl der Hospitalisierungen nur dann niedrig, wenn die Impfstoffe effektiv sind. Die Modellierer nahmen hier eine Wirksamkeit von 96 Prozent an. Die Delta-Variante wirft in dieser Hinsicht aber Fragen auf.

Neben einer hohen Durchimpfungsrate ist nämlich auch entscheidend, wie gut die Impfung besonders vulnerable Menschen schützt. Die Hospitalisierungsrate liegt zurzeit auch deshalb niedrig, weil es vor allem die Jungen sind, die sich infizieren. Stecken sich vermehrt Risikopatientinnen und -patienten an, könnte sich das schnell ändern.

Zwar belegen Daten aus Israel und Großbritannien eine hohe Schutzwirkung im Hinblick auf Hospitalisierungen – auch für Infektionen mit der Delta-Variante. Ob das jedoch für alle Geimpften im gleichen Ausmaß gilt, lässt sich noch nicht beantworten.

"Ich würde mit einer abschließenden Beurteilung der Wirksamkeit der Impfstoffe bei der Delta-Variante vorsichtig sein", sagt der Mediziner und Gesundheitsökonom vom Institut für Höhere Studien (IHS) Thomas Czypionka. "Das Wissen, das wir darüber bisher haben, ist noch vorläufig."

Impfdurchbrüche bei Risikopatienten möglich

Gerade bei jenen, die ohnehin ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben, könnte es auch zu Durchbruchsinfektionen kommen, sagt Czypionka. Das sind etwa Menschen, die eine Chemotherapie hinter sich haben, Patientinnen und Patienten, die immunsupprimierende Medikamente nehmen, oder ältere Menschen, deren Immunsystem nicht mehr so gut funktioniert wie das der Jungen. Nach der Impfung fällt ihre Immunantwort schwächer aus.

"Aus den Zulassungsstudien wissen wir, dass die Impfungen bei rund zehn Prozent nicht ausreichend schützen", sagt Czypionka. Die Delta-Variante könnte diesen Prozentsatz vergrößern.

Die GÖG will die Hospitalisierungen aufgrund von Corona in Zukunft deshalb genauer analysieren: Sind die Patientinnen und Patienten nur einmal oder bereits vollständig geimpft? Leiden sie an Vorerkrankungen? Die Zusammenführung solcher Daten war in Österreich bisher nicht möglich.

Auch Stefan Thurner macht die Delta-Variante Sorgen. Ist der Anteil der geimpften Infizierten, die schwer erkranken, höher als erwartet, könnte es bei einer Durchimpfungsrate von unter 80 Prozent erneut kritisch werden. "Wenn es blöd läuft, stehen wir nicht viel besser da als letzten Herbst", sagt er. "Die Inzidenz bleibt deshalb ein wichtiger Indikator, um bevorstehende Belastungen des Gesundheitssystems abzulesen." Denn: Im exponentiellen Wachstum kann es schnell gehen.

Hohe Infektionszahlen werden zu mehr Long-Covid-Patienten führen

Doch selbst wenn die Zahl der Krankenhauseinweisungen beherrschbar bleibt, haben hohe Inzidenzen Auswirkungen. "Es wäre ein Fehler, das Pandemiemanagement nur auf die Vermeidung von hohen Hospitalisierungen zu konzentrieren", sagt Czypionka.

Vor allem eine dritte Unbekannte bereitet Gesundheitsexpertinnen und -experten zunehmend sorgen: die Langzeitfolgen einer Corona-Erkrankung. Vieles dazu ist nach wie vor unklar: Wie viele Menschen trifft Long Covid schwer? Wie lange halten die Probleme an? Wie viele werden sich davon nicht vollständig erholen? Das britische Statistikamt schätzt, dass 14 Prozent mindestens zwölf Wochen nach der Infektion noch Beschwerden haben, bei jüngeren Menschen sind es sogar 18 Prozent.

Bei Kindern dürfte Long Covid etwas seltener sein – jedoch beziffern auch konservative Schätzungen den Anteil jener Kinder, die nach einer Infektion zumindest vier Wochen an Spätfolgen leiden, auf rund zwei bis vier Prozent. Steigen die Zahlen über den Sommer wieder an, könnten sich viele, die noch nicht geimpft wurden, in den Schulen infizieren.

Auch ob die Impfung solche Langzeitfolgen verhindern oder zumindest reduzieren kann, steht noch nicht fest. Virologen und Virologinnen halten das theoretisch für möglich. Studiendaten dazu gibt es aber kaum. Für das Pandemiemanagement ist diese Frage aber zentral. "Neben persönlichem Leid könnten durch Langzeitkrankenstände enorme volkswirtschaftliche Schäden entstehen", sagt Czypionka.

Zuletzt ist unklar, ob das Virus sein Mutationsrepertoire bereits ausgeschöpft hat. Mit jeder Infektion gibt man dem Virus aber eine Chance, zu mutieren und dabei Mutationsmerkmale zu bilden, die es ansteckender oder fitter machen. Derzeit kann niemand ausschließen, dass dabei eine Variante entsteht, die den Immunschutz besser umgehen kann als Delta. (Eja Kapeller, 21.7.2021)