Das Risiko für Arbeitgeber bei Massenkündigungen durch eine verspätete Meldung an das AMS wurde verringert.

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Das österreichische Arbeitsmarktförderungsgesetz (§ 45a AMFG) schreibt bei "Massenkündigungen", d.h. beabsichtigten Kündigungen einer in Abhängigkeit von der Arbeitnehmeranzahl im Betrieb gestaffelten Anzahl von Arbeitnehmern innerhalb von 30 Tagen, eine Anzeige an das Arbeitsmarktservice (AMS) vor. Diese Rechtslage beruht auf Unionsrecht, der Massenentlassungs-Richtlinie. Der Oberste Gerichtshof judizierte schon seit Mitte der 1990er-Jahre, als die Richtlinie es noch gar nicht vorschrieb (das erfolgte erst mit der aktuellen RL 98/58 EG), dass einvernehmliche Auflösungen auf Veranlassung des Arbeitgebers mitzuzählen seien.

Das ließ sich mit dem diesbezüglich offenen Wortlaut des § 45a Abs 1 AMFG durchaus begründen ("beabsichtigen, …..aufzulösen"). Gemäß § 45a Abs 5 AMFG sind "Kündigungen" im oben umschriebenen Sinne rechtsunwirksam, die entweder vor Einlangen der Anzeige beim AMS oder nach Einlangen der Anzeige, aber vor Ablauf von 30 Tagen nach Einlangen der Anzeige ausgesprochen werden – es sei denn, das AMS hat einer Verkürzung der Frist zugestimmt und die Zustimmung wurde abgewartet. Mit "ausgesprochen" ist die Abgabe der Kündigungserklärung, nicht deren Zugang gemeint.

Absage an bisherige Rechtsmeinung

Bisher ging die überwiegende Meinung und vorsichtige Rechtsberatung davon aus, dass auch vom Arbeitgeber initiierte Auflösungsvereinbarungen von der Nichtigkeitssanktion betroffen seien, wenn sie verfrüht im obigen Sinne geschlossen werden. Dieser Ansicht hat, wie berichtet, der OGH nun mit der Entscheidung 9 ObA 47/21h vom 24. Juni 2021 eine Absage erteilt und ausgesprochen, dass die Nichtigkeit sich dem klaren Wortlaut des § 45a Abs 5 AMFG zufolge nur auf verfrühte "Kündigungen" beziehe.

Zwar sprächen teleologische Gründe für eine Einbeziehung von Auflösungsvereinbarungen – denn es gehe darum, dass sich die Arbeitsmarktverwaltung auf größere Freisetzungen einstellen können solle; da aber der Wortlaut der innerstaatlichen Norm eindeutig sei und auch die RL keine andere Auslegung gebiete, seien einvernehmliche Auflösungen zwar bei der Berechnung der "Schwellenwerte" (siehe oben) mitzurechnen, nicht aber unwirksam, wenn sie zu früh vereinbart würden.

Warum die Ansicht des OGH überzeugt

Die Ansicht des OGH überzeugt. Und das von ihm bemühte, aber hinter dem Gesetzeswortlaut zurückstehende, "teleologische Argument" ist auch gar nicht so zugkräftig, wie es zunächst scheint. Denn in der Praxis werden in eine vom Arbeitgeber gewollte einvernehmliche Auflösung Arbeitnehmer primär aus zwei Gründen einwilligen: weil sie entweder schon einen neuen Job haben oder sich sehr gute Chancen ausrechnen, einen solchen rasch zu erlangen, und/oder weil sie (z. B. zur Abgeltung des Kündigungsanfechtungsrisikos) zusätzliche Geldleistungen erhalten.

Die Richtlinie stellt "Entlassungen", also einseitigen Beendigungen durch den Arbeitgeber, die von diesem bloß "veranlassten", d. h. einvernehmlichen Beendigungen auf Arbeitgeberwunsch, ausdrücklich nur für die Berechnung der maßgeblichen Anzahl an Auflösungen gleich, d. h. für die Ermittlung der Schwellenwerte. Freilich gilt auch das gemäß RL – und zwar für Kündigungen wie für einvernehmliche Auflösungen – nur, wenn die Kündigung oder vom Arbeitgeber gewollte einvernehmliche Auflösung nicht auf Gründen in der Person des Arbeitnehmers beruht, sondern auf betrieblichen Umständen.

Das müsste auch der OGH in seiner Rechtsprechung berücksichtigen, wenngleich das AMFG hier sehr weit formuliert ist. Wenn also ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer wegen mehrmaligen Zuspätkommens trotz Abmahnung zu sich ruft und ihm (statt der vermutlich möglichen Entlassung) eine einvernehmliche Auflösung anbietet oder ihn kündigt, dann hat diese Vorgangsweise keinen Einfluss darauf, ob gleichzeitig laufende Kündigungen oder vom Arbeitgeber initiierte einvernehmliche Auflösungen aus Rationalisierungsgründen wegen Überschreitung der Schwellenwerte wirksam erst 30 Tage nach Einlangen der Anzeige beim AMS ausgesprochen werden können.

Auch wenn gar nicht gemeldet wird

Im Anlassfall zeigte der Arbeitgeber die geplanten Auflösungen dem AMS an, schloss aber schon am nächsten Tag Auflösungsvereinbarungen ab. Das AMS stimmte hier zwar – was selten ist – einer Verkürzung der 30-Tage-Frist zu, aber eben erst danach.

Die Ansicht des OGH, dass verfrühte Auflösungsvereinbarungen nicht unwirksam sind, muss freilich auch für den Fall gelten, dass der Arbeitgeber überhaupt keine Anzeige an das AMS erstattet. Die Formulierung des entsprechenden Satzes im OGH-Erkenntnis darf darüber nicht hinwegtäuschen. Denn es macht überhaupt keinen Unterschied, ob der Arbeitgeber einvernehmliche Auflösungen vor Ablauf von 30 Tagen ab der Anzeige abschließt oder ob er die Anzeige überhaupt unterlässt.

Natürlich können aber solche – wirksamen – Auflösungsvereinbarungen dazu führen, dass Kündigungen unwirksam sind, weil sie unter Mitzählung der einvernehmlichen Auflösungen als "Massenkündigungen" nach § 45a AMFG zu qualifizieren sind. Wenn jedoch ein Arbeitgeber eine anzeigepflichtige Anzahl Arbeitsverhältnisse kündigt und die Anzeige nicht erstattet, weil er darauf vertraut, sich mit allen Arbeitnehmern zu einigen, dann sind alle daraufhin geschlossenen Auflösungsvereinbarungen wirksam, jene Kündigungen, bei denen das nicht gelingt, hingegen unwirksam.

Beseitigung von "Gold-Plating"

Bei der Anordnung der Unwirksamkeit verfrühter Massenkündigungen handelt es sich übrigens um einen jener (sehr seltenen) Fälle von "arbeitsrechtlichem Gold-Plating", dessen Beseitigung nicht mit einer Verkürzung von Arbeitnehmerschutz verbunden und aus sachlichen Gründen geboten wäre. Denn Art 4 Abs 1 RL schreibt nur vor, dass "Massenentlassungen" frühestens 30 Tage ab Einlangen der Anzeige (beim AMS) wirksam werden. Es würde also genügen, wenn der österreichische Gesetzgeber genau das anordnet.

Die Rechtsunwirksamkeitssanktion beschert zwar Arbeitnehmern von unkundigen oder schlecht beratenen und Monate später mit einer Feststellungsklage konfrontierten Arbeitgebern u. U. ein "Körberlgeld" in Form längerer Entgeltfortzahlung, doch ist dieses durch den rein arbeitsmarktpolitischen Zweck der RL und des AMFG nicht gerechtfertigt. (Georg Schima, 21.7.2021)