In vielen internationalen Städten ist Tempo 30 mittlerweile die Regelgeschwindigkeit und Tempo 50 die gekennzeichnete Ausnahme. Dabei hatte Graz hatte vor fast 30 Jahren eine Vorreiterrolle inne, erinnert Michael Schwendinger von der Mobilitätsorganisation VCÖ im Gastkommentar.

Generell Tempo 30 in der Stadt? Aachen, Augsburg, Freiburg im Breisgau, Hannover, Leipzig, Münster und Ulm wollen das nun ausprobieren.
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Es war im September 1992, als die steirische Landeshauptstadt Graz flächendeckend Tempo 30 einführte, ausgenommen waren die Hauptstraßen, wo weiterhin Tempo 50 erlaubt war. Eine begleitende Untersuchung zeigte, dass Verkehrsunfälle im ersten Jahr nach der Umsetzung um 18 Prozent zurückgingen. Die durchschnittliche Kfz-Geschwindigkeit reduzierte sich hingegen nur minimal um 0,5 km/h. Tempo 30 verbesserte den Verkehrsfluss, brachte weniger Stop-and-go-Verkehr. Die Akzeptanz von Tempo 30 stieg von 44 Prozent kurz vor der Umsetzung auf 60 Prozent im Monat nach der Einführung und auf 77 Prozent zwei Jahre später. Bei Autofahrerinnen und Autofahrern lag die Zustimmung vorher bei lediglich 29 Prozent, zwei Jahre später befürwortete mit 68 Prozent ebenfalls eine große Mehrheit die Regelung.

Vorreiterrolle eingebüßt

Seither sind fast 30 Jahre vergangen. Dem Vorbild Graz folgten Dornbirn und Leoben. Während in Graz für rund 80 Prozent des Straßennetzes Tempo 30 gilt und in Bregenz für immerhin drei Viertel des Straßennetzes, sind es in Wien nur zwei Drittel, in Klagenfurt knapp mehr als die Hälfte und in Linz nur 45 Prozent des Straßennetzes.

Mittlerweile hat Österreich seine Vorreiterrolle eingebüßt. Infolge des Ende 2015 beschlossenen UN-Klimaschutzabkommens von Paris haben viele Städte umfassende Maßnahmen für ein klimaverträgliches Verkehrssystem begonnen. Tempo 30 wurde als effektive, rasch umsetzbare und kostengünstige Maßnahme von zahlreichen Städten aufgegriffen. Ob Brüssel, Grenoble, Helsinki, Oslo oder Zürich – Tempo 30 ist in diesen Städten die Regelgeschwindigkeit, Tempo 50 die gekennzeichnete Ausnahme. Niedrigere Tempolimits bedeuten auch, dass die vorgeschriebene Mindestbreite für Straßen geringer ist. Es wird Platz frei. Platz, den Städte angesichts der zunehmenden Erderhitzung dringend für mehr schattenspendende Bäume und kühlende Grünflächen benötigen.

Tempo 30 rettet Leben

In Deutschland haben nun sieben große Städte, darunter Aachen, Leipzig und Münster, die deutsche Bundesregierung aufgefordert, in der Straßenverkehrsordnung (StVO) Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit im Ortsgebiet zu ermöglichen. "Wir wollen den Verkehr in den Städten effizienter, klimaschonender und sicherer machen", sagte der deutsche Städtetagspräsident Burkhard Jung (SPD). Und in Spanien gilt seit diesem Mai landesweit im Ortsgebiet 30 km/h als Höchstgeschwindigkeit auf Straßen mit einer Kfz-Fahrbahn je Richtung, Tempo 20 auf Straßen mit nur einer Fahrbahn.

344 Menschen wurden im Jahr 2020 in Österreich im Verkehr getötet, jede dritte Person starb wegen überhöhter Geschwindigkeit. Jeder vierte tödliche Verkehrsunfall passierte im Ortsgebiet. Die größte Opfergruppe waren Fußgängerinnen und Fußgänger. 47 Prozent der Menschen, die im Ortsgebiet im Straßenverkehr ums Leben kamen, waren älter als 70 Jahre. Das Tötungsrisiko für Gehende bei einem Zusammenstoß mit einem Auto bei Tempo 50 ist fünfmal so hoch wie bei Tempo 30. Kurz gesagt: Tempo 30 rettet Leben.

"Tempo 30 wäre eine wichtige Maßnahme zur Förderung der aktiven Mobilität von Kindern."

Tempo 30 verbessert auch die Lebensqualität. Ein guter Indikator für die Aufenthaltsqualität des öffentlichen Raums sind Kinder. Eine Untersuchung in Deutschland zeigt, dass Kinder in verkehrsberuhigten Tempo-30-Zonen durchschnittlich mehr als doppelt so lange ohne elterliche Aufsicht im Wohnumfeld draußen spielen wie in einer Straße mit Durchzugsverkehr und Tempo 50. Zudem wäre Tempo 30 eine wichtige Maßnahme zur Förderung der aktiven Mobilität von Kindern, die seit Jahrzehnten rückläufig ist. Eltern begründen diesen Trend oft so: Selbstständiges Radfahren und Gehen der Kinder im öffentlichen Raum sei wegen des Autoverkehrs zu gefährlich.

Was bringt Tempo 50?

Aber stellen wir die Frage einmal umgekehrt: Was spricht eigentlich für Tempo 50 als Standardgeschwindigkeit im Ortsgebiet? Als Hauptargument werden Geschwindigkeit und Zeitgewinn genannt. Dieses Argument fällt im Praxistest schnell in sich zusammen. Einerseits, weil die reale Differenz der Durchschnittsgeschwindigkeit minimal ist, wie sich in Graz gezeigt hat. Andererseits, weil auf wichtigen Verkehrsadern weiterhin Tempo 50 verordnet werden kann.

Oft wird auch ein Ausbremsen des öffentlichen Verkehrs befürchtet. Doch gibt es zahlreiche Möglichkeiten und bewährte Maßnahmen, den öffentlichen Verkehr in den Städten zu beschleunigen, wie eine Vorrangschaltung bei Ampeln, vorgezogene Haltestellen, eigene Busspuren oder Gleiskörper für Straßenbahnen. Zudem motiviert Tempo 30 zum Gehen und Radfahren – was wiederum mehr Öffi-Fahrgäste bringt. Die Praxis zeigt: Ist der Wille da, lassen sich Lösungen finden.

StVO steht kopf

In Österreich wird derzeit an einer Reform der Straßenverkehrsordnung gearbeitet. Laut geltender Gesetzeslage ist Tempo 30 im Ortsgebiet die zu begründende Ausnahme. Gemäß Paragraf 20/2a StVO kann per behördliche Verordnung für ein gesamtes Ortsgebiet eine reduzierte Geschwindigkeit festgelegt werden, sofern dies der Verkehrssicherheit dient oder Belastungen durch Lärm, Geruch und Schadstoffe reduziert. Alle diese Punkte treffen auf Tempo 30 statt Tempo 50 im Ortsgebiet zu – das Gesetz steht also kopf. Die Herbeiführung einer für Lebensqualität und Verkehrssicherheit vorteilhaften Situation muss per behördliche Verordnung genehmigt werden. Diese Regelung stammt aus einer Zeit, in der die Verkehrsplanung fast alles der Flüssigkeit des Autoverkehrs unterordnete. Die Rahmenbedingungen haben sich durch die Klimakrise radikal verändert, auch das Ziel eines "menschengerechten Verkehrssystems" ist weitgehend Konsens.

Es braucht eine Beweislastumkehr – Tempo 30 als Standard und höhere Geschwindigkeiten innerorts nur dort, wo Risiken und Nebenwirkungen begrenzt sind. Im Hinblick auf die lokale Lebensqualität sowie Verkehrssicherheit lässt sich jedenfalls kaum begründen, warum Österreich dem spanischen Beispiel nicht folgen sollte. (Michael Schwendinger, 21.7.2021)