Reminiszenz an den Sommer 1985: Der Erzähler Alex (hinten: Félix Lefebvre) erinnert sich an seine Zeit mit David (Benjamin Voision).
Foto: Filmladen Filmverleih / Viennale

Eine "Leiche zu Lebzeiten" – so beschreibt Alex seinen Freund David, mit dem er 1985 einen kurzen, großen Sommer verbringt. Das schockierende Wort eröffnet den Film, der so heißt wie diese eine, entscheidende Jahreszeit für die beiden jungen Männer: Sommer 85. Melodien von The Cure setzen dazu einen ersten Akkord, später wird Rod Stewarts Sailing mit seiner Wehmut wie eine Hymne den Film durchwehen. Von Beginn an steht auch fest, dass etwas passiert sein muss. Die Liebe hat nur sechs Wochen gedauert. Sie war aber so groß, dass sie noch heute, mehr als dreißig Jahre später, erzählenswert und einer Verfilmung würdig ist.

Alex ist der Erzähler. Er heißt eigentlich Alexis, mag diesen Namen aber nicht, er klingt ihm zu weich. Alex ist der Sohn einfacher Leute, sein Vater ist Hafenarbeiter. In der Schule aber hat der Literaturlehrer Lefèvre erkannt, dass Alex begabt ist. Er soll noch keinen Beruf ergreifen, sondern das "bac" machen, die französische Matura. Und zwar im literarischen Zweig. Die Geschichte von Alex und David ist also von vornherein vor allem die Geschichte von Alex, der mit dieser Erzählung seine Stimme findet. Sie ist subjektiv, ihr ist nicht vollständig zu trauen, es handelt sich um ein Genre, das es im Sommer 85 noch kaum gab: Autofiktion.

Sterblichkeit und Glück

Das ist ein Thema, das den vielseitigen französischen Regisseur François Ozon immer schon interessiert hat. Am deutlichsten wohl in Dans la maison, wo es auch schon um Lehrer und Schüler ging und um die Frage, in welchem Haus jemand wirklich zu Hause ist. Klassenaspekte sind dabei für Ozon auch immer interessant.

Die Szene, in der Alex und David aufeinandertreffen, hat gleich einmal etwas Unwirkliches. Auf offener See, am Horizont droht ein Sturm, das Boot von Alex ist gekentert, wie aus Protest gegen einen früheren guten Freund, der jetzt mit Mädchen geht. David kommt herbeigesegelt, rettet Alex das Leben, das Unwetter verzieht sich, ohne dass er sich recht versieht, liegt Alex bei David daheim in der Badewanne – in "seinem" neuen Haus. "Badewannen erinnern mich an Särge, die Badewanne von Davids Mutter erinnert mich an einen Sarkophag."

Mit diesem Satz wird das große Leitmotiv von Sommer 85 benannt: die Faszination für den Tod, die Sterblichkeit, die nur für ein paar große Momente in Vergessenheit gerät. Es sind die Momente des Glücks von Alex und David. Das französische Kino hat eine erfolgreiche Tradition von Strand- und Sommerfilmen, in denen Jugendliche sich mit "kleinen Engländerinnen" oder einfach bei einer niemals endenden Fete (La Boum) in der Kunst der ersten Liebe übten.

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Schwules Pendant

Sommer 85 ist dazu das schwule Pendant. Nur eben mit dem Unterschied, dass der Sommer sich hier auf Friedhof reimt und dass die Vorlage nicht aus Frankreich stammt, sondern von dem britischen Jugendbuchautor Aidan Chambers: in Dance on my Grave, erschienen 1982, heißt der Held Hal, und die Form der Erzählung ist deutlich fragmentarischer als bei Ozon.

Diesen interessiert gar nicht so sehr, was in diesem Sommer tatsächlich geschehen ist, sondern wie daraus eine Erzählung wird, die ein ganzes Leben prägen kann. Bei ihm gibt es zwar auch eine Sozialarbeiterin, die recherchiert und die Alex so verstehen will, wie er wirklich ist. Relevanter aber ist der Literaturlehrer, der die Funktion eines Mentors einnimmt, dabei aber auch die ganze Zeit sehr ambivalent seine Interessen an Alex im Unklaren lässt.

Unwirkliche Routine

Die Mutter von David (gespielt von Valeria Bruni-Tedeschi) ist beinahe so etwas wie eine Märchenfigur, die Alex die ganze Zeit als "Häschen" anspricht – ein Titel, den David übernimmt, der Alex aber auch als "Engelsvisage" bezeichnet.

Félix Lefebvre in der Hauptrolle und Benjamin Voision als sein Gegenüber sind exzellent in ihren Rollen. Und trotzdem bleibt von Sommer 85 ein Gefühl von leichter Routine: Der hochproduktive François Ozon schüttelt Geschichten dieser Art geradezu aus dem Ärmel. Der Sommer 85 ist ein Ereignis, das sich schließlich doch ein wenig zu stark im Unwirklichen verliert. (Bert Rebhandl, 22.7.2021)