Des einen Freud, des anderen Leid: Asteria (Svetlana Aksenova) und Kaiser Nerone (Rafael Rojas) betrachten das Blutbad.

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Jedes Mal, wenn er seinen Förderer in dessen letzten 15 Lebensjahren besucht habe, sei dieser gerade dabei gewesen, letzte Hand an eine Partitur zu legen, die ihn fast sein ganzes schöpferisches Leben lang beschäftigt hatte.

Dieser Bericht von Ferruccio Busoni über Arrigo Boito (1842–1918) und dessen Kampf mit seiner musikalischen Tragödie "Nerone" klingt tatsächlich glaubwürdig. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang – seit er 20 Jahre alt gewesen war – hatte er das Projekt vor Augen, bei dem er "alles richtig", ja "perfekt" machen wollte.

Über zehn Jahre lang studierte er dafür zunächst historische Quellen über den berühmten, dem Wahnsinn anheimfallenden römischen Kaiser Nero. Für den literarisch ebenso sehr wie musikalisch ambitionierten Schöpfer stand nicht weniger als das vollkommene Gesamtkunstwerk schlechthin auf dem Spiel, in dem sich das eigene Libretto, die Musik und die Bühnenvorgänge in idealer Harmonie entfalten sollten.

Boitos Vision war es allerdings auch, sich von den als erstarrt und lebensfern empfundenen Opernkonventionen seiner Zeit zu lösen und stattdessen das pralle Leben auf die Bühne zu bringen – und das hieß für ihn insbesondere auch, die sinnliche Liebe, das Hässliche, Abstoßende und Böse.

Wegweisender Librettist

Das Konstruktive und das Destruktive gingen dabei Hand in Hand, abschließen konnte Boito seinen "Nerone" nie, von dem er fünf Akte dichtete, den letzten, in dem der Kaiser endgültig verrückt wird, aber musikalisch gar nicht realisierte.

Und so wäre sein Name vor allem mit dem musikdramatischen One-Hit-Wonder "Mefistofele" (nach Goethes Faust) verbunden, hätte er nicht wegweisende Libretti für andere, insbesondere für Verdis Meisterwerke "Otello" und "Falstaff" verfasst.

An dieser Einordnung wird wohl auch der Versuch einer Ehrenrettung, wie er nun bei den Bregenzer Festspielen vorgenommen wurde, kaum etwas ändern. Auch die 1924 uraufgeführte, von Antonio Smareglia, Vittorio Tommasini und Arturo Toscanini hergestellte Fassung des seither kaum gespielten Werks musste in ihrer vieraktigen Form Fragment bleiben – wobei sich die Frage stellt, wie der fünfte Akt nach den verheerenden Geschehnissen des vierten, in dem Rom in Flammen aufgeht, Tod und Folter ungehindert losbrechen, überhaupt noch hätte aussehen können.

Sehr bemüht ist alles an dieser Bregenzer Produktion, respektabel schon der Mut, mit allen Fasern an eine solche "Rarität" zu glauben und alle Kräfte für sie in die Waagschale zu werfen.

Dirigent Dirk Kaftan macht mit den Wiener Symphonikern eine vielfältige, widersprüchliche Partitur hörbar, die von einfacher Volksliedhaftigkeit über komplex ineinander montierte Ensembles bis zu fast bitonalen und bruitistischen Effekten reicht.

Kampf um die wahre Religion

In der Titelpartie lässt Rafael Rojas das Überschwappen des Herrschers deutlich werden, während er unverkennbar mit den Schwierigkeiten des Parts kämpft. Um ihn herum ringen der Jesus-Prophet Fanuèl (Brett Polegato), die Priesterin Rubria (Alessandra Volpe), die Christin Asteria (Svetlana Aksenova) und der heidnische Häretiker Simon Mago (Lucio Gallo) – allesamt mit bewundernswerten stimmlichen Leistungen – um die wahre Religion sowie um Liebe und/oder Macht.

Wie vertrackt die Handlung ist, zeigt schon die schwer lesbare Inhaltsangabe im Programmheft, leider bleiben die Handlungsstränge im Stück selbst dramaturgisch unausgewogen.

In seiner ambitionierten Inszenierung setzt Olivier Tambosi in den kubistisch reduzierten, doch realistisch durchsetzten und per Drehbühne ständig bewegten Kulissen von Frank Philipp Schlössmann auf grelle Farben und Gesten und auf viel angedeutete Brutalität.

Am Ende des dreistündigen Premierenabends gab es viel dankbaren Applaus und wenig verhaltenen Widerspruch – und für manche wohl auch die Hoffnung, dass so viel Normalität bei den Rahmenbedingungen (keine Maskenpflicht im prallgefüllten Festspielhaus bei engmaschigen Drei-G-Kontrollen) gutgeht. (Daniel Ender, 22.7.2021)