Der genaue Tathergang blieb auch am Donnerstag weiterhin unklar. Fest steht nur, dass Massimo Adriatici, der für öffentliche Sicherheit zuständige Gemeinderat der lombardischen Kleinstadt Voghera, am späten Dienstagabend vor einer Bar mit einem 39-jährigen Immigranten marokkanischer Herkunft in Streit geraten war. Der Obdachlose, mehrfach vorbestraft wegen kleinerer Eigentums- und Drogendelikte, hatte offenbar andere Gäste der Bar belästigt – und Adriatici wollte für Ordnung sorgen.

Matteo Salvini nimmt seinen Parteifreund in Schutz – ohne Wenn und Aber.
Foto: EPA/FABIO FRUSTACI

Er sagte aus, dass ihn der Marokkaner im Verlauf der Auseinandersetzung gestoßen und zu Fall gebracht habe. Dabei habe sich – ungewollt – ein Schuss aus seiner Pistole gelöst. Das Projektil traf den unbewaffneten Obdachlosen in die Brust; er verstarb kurz darauf im Krankenhaus. Der Schütze wurde in Hausarrest genommen.

Angesichts des Amts und der Parteizugehörigkeit des Täters – die Lega gilt als rechtsextrem und ausländerfeindlich – hat der Vorfall in Italien für hitzige politische Debatten gesorgt. Von Lega-Parteichef Matteo Salvini kam für Adriatici umgehend der Freispruch: Bei der Tat des Gemeinderats handle es sich ja wohl klar um "legitime Notwehr", erklärte Salvini – obwohl sich Adriatici gar nicht auf Notwehr beruft. "Leider" sei dabei ein Mensch ums Leben gekommen, fügte Salvini an.

Umstrittenes Notwehrgesetz

Im Jahr 2019 hatte Salvini – damals war er Innenminister und Vizepremier – eine Novelle des italienischen Notwehrgesetzes durchgesetzt, wonach der Schusswaffengebrauch gegen Eindringlinge im eigenen Haus oder Geschäft grundsätzlich immer erlaubt ist.

"Wir stehen auf der Seite der anständigen Bürger: Seit heute wissen die Delinquenten, dass der Job des Räubers und Einbrechers schwieriger und gefährlicher geworden ist", sagte Salvini damals im Senat.

Die Linke warnte schon damals, dass dies zu "Wildwestzuständen" führen könne. Zahlreiche Exponenten des sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) wie Parteichef Enrico Letta und die frühere Parlamentspräsidentin Laura Boldrini kritisierten nach der Gewalttat von Voghera, dass ein Vertreter der politischen Institutionen mit einer durchgeladenen, offenbar entsicherten Pistole spazieren gehe.

Der Staatssekretär im Innenministerium, Carlo Sibilia, betonte, dass es Aufgabe der Polizei sei, für Ordnung im öffentlichen Raum zu sorgen. "Es ist wichtig, dass niemand auf die Idee kommt, dass man als Privatperson mit einer Pistole selber für Gerechtigkeit sorgen könne", sagte der Staatssekretär.

Neuer Gesetzesantrag

Um eben einer solchen Tendenz entgegenzuwirken, hat der PD zufällig vor wenigen Tagen im nationalen Parlament einen Gesetzesvorschlag eingebracht, der den privaten Waffenbesitz in Italien strengeren Regeln und Bedingungen unterwerfen soll. Die nach wie vor mächtige Lega will davon aber nichts wissen.

Der Schütze von Voghera war bis zu seiner Wahl in den Gemeinderat selber Polizist gewesen und führt außerdem eine Anwaltskanzlei. Er verfügt über eine Bewilligung zum Waffentragen und trainiert regelmäßig an Schießständen; er gilt als treffsicherer Schütze.

Der Schütze von Voghera war bis zu seiner Wahl in den Gemeinderat selber Polizist.
Foto: Filippo MONTEFORTE / AFP

Als Gemeinderat hat sich Adriatici mit großem Nachdruck für die öffentliche Ordnung stark gemacht; wegen seines Eifers trug er den Spitznamen "Lo Sceriffo" – der Sheriff. Besonders im Visier befinden sich die Schwächsten der Gesellschaft: Obdachlose, Immigranten, Drogenabhängige und Landstreicher, die er oft mit einem Verbot belegte, bestimmte öffentliche Orte – etwa Parkanlagen – aufzusuchen. Bei seinen Wählerinnen und Wählern ist er deshalb sehr beliebt.

Gesinnungswandel?

Während der Parlamentsdebatten zu Salvinis Notwehrgesetz hatte sich der Jurist Adriatici noch für Verhältnismäßigkeit beim Einsatz von Schusswaffen starkgemacht: Im Jahr 2018 erklärte er in einem Interview, der Griff zur Pistole oder zur Flinte müsse immer durch eine "reale Gefahr" für Leib, Leben und Besitz des Angegriffenen oder anderer Personen gerechtfertigt sein. "Legitim ist die Notwehr nur, wenn ich schieße, um nicht selber erschossen zu werden oder wenn keine andere Möglichkeit besteht, den Angreifer in die Flucht zu schlagen", betonte er. damals. Der Schusswaffengebrauch müsse also immer die Ultima Ratio, das letzte zur Verfügung stehende Mittel sein. Die Realität scheint anders auszusehen. (Dominik Straub, 22.7.2021)