Der 60 Jahre alte Lothar Matthäus verdient sein Geld heute als TV-Experte.

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Wenn man Lothar Matthäus eine Frage zum Fußball stellt, sprudelt es förmlich aus ihm heraus. Der Europameister von 1980 und Weltmeister von 1990 war auf Wien-Besuch, von Sky Sport Austria wurde er für die kommende Saison als Champions-League-Experte vorgestellt.

STANDARD: In vielen Ländern Europas dominiert ein Klub das Geschehen. Wie sehr schadet das den Ligen?

Matthäus: Die Ligen bestehen nicht nur aus dem Rennen um Platz eins. Es herrschen heiße Kämpfe um Plätze für die Champions League und Europa League und gegen den Abstieg. Außerdem habt ihr ja zusätzliche Spannung erzeugt mit dieser Ligateilung.

STANDARD: Wie gefällt Ihnen das Format der österreichischen Bundesliga?

Matthäus: Ich würde der deutschen Bundesliga nicht dazu raten. Dass in Österreich der Siebte international spielt, der Sechste aber nicht, ist ein bisschen komisch. Aber es ist ein guter Anreiz für die Qualifikationsrunde. Die Idee ist nicht schlecht. Im Vergleich zur Zehnerliga fehlt es ja etwas an Wirtschaftskraft: Früher waren es 36 Spiele, heute sind es 32. Da macht man sich bestimmt Gedanken. Ich habe den Eindruck, dass die Liga sehr professionell arbeitet.

STANDARD: Was sind Ihre Beobachtungen zum österreichischen Klubfußball?

Matthäus: Salzburg hat sich in Europa etabliert. Mir fehlt die Austria, obwohl ich als ehemaliger Angestellter Rapid mehr die Daumen drücke. Die Liga hat Traditionsklubs. Es bräuchte auch eine Grazer Mannschaft, die wieder für mehr Furore sorgt.

STANDARD: Österreich liegt in der Fünfjahreswertung auf Platz zehn. Besser war die Liga noch nie.

Matthäus: An die ersten fünf Ligen wird man niemals rankommen. Portugal und Niederlande sehe ich auch noch vorne. Danach geht es nur um Nuancen. Die besten Österreicher spielen in der Nationalmannschaft, und die meisten spielen eben im Ausland. Dort können sie nur besser werden. Ohne jemandem zu nahe zu treten, in Deutschland spielen sie auf einem anderen Niveau. Das freut auch Franco Foda.

STANDARD: Viele sprechen von einer goldenen Generation im ÖFB-Team. Würden Sie das bestätigen?

Matthäus: In Deutschland sind Österreicher keine Ergänzungsspieler mehr. Mittlerweile gibt es 20 absolute Führungsspieler, die in ihren Vereinen nicht mehr wegzudenken sind. Das liegt an der guten Ausbildung in Österreich. Und am Charakter der Spieler, die sich nicht mit weniger zufriedengeben wollen. Wenn der Nachwuchs zu gut ist, findet man ihn meistens in der deutschen Bundesliga wieder. Deshalb ist auch Österreich Nationalteam erfolgreicher als noch vor einigen Jahren.

STANDARD: Wie hat Ihnen Österreich bei der Euro gefallen?

Matthäus: Mich haben viele Spieler überzeugt, etwa Alaba, Sabitzer, Laimer und Lainer. Hinteregger ist für mich einer der stärksten Innenverteidiger in der deutschen Bundesliga. Große Turniere sind ein Muss für Österreich. Und dann sieht man ja, was möglich ist. Die Sensation gegen Italien war zum Greifen nahe. Unverdient wäre sie nicht gewesen, speziell aufgrund der zweiten Halbzeit. Ich würde jetzt nicht unbedingt vom Weltmeistertitel träumen. Aber um den österreichischen Fußball mache ich mir keine Sorgen.

Deutschland schied bei der Euro 2020 gegen England aus. Verdientermaßen, wie Matthäus sagt.
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STANDARD: Auch das DFB-Team scheiterte im Achtelfinale, obwohl es ganz ordentlich spielte.

Matthäus: Nee, finde ich nicht.

STANDARD: Gut, das Ziel war bestimmt ein anderes.

Matthäus: Mit dem deutschen Fußball können wir seit der WM 2018 nicht zufrieden sein. Das ist nicht die Mannschaft, die wir erwarten. Es war kein moderner Fußball. Ballbesitz ist nicht mehr gefragt. Es geht um ein Umschaltspiel, schnelle Vorstöße in den Strafraum und darum, Positionen mit Qualität zu besetzen. Das hat die Mannschaft nicht geschafft, sie ist verdient ausgeschieden. Das ist nicht böse gemeint, geht gegen keinen Trainer oder Spieler. Doch der Trainer hat nicht den Fußball spielen lassen, den es heutzutage braucht, um gegen die Besten zu bestehen.

STANDARD: Ist Ihnen bei der Euro noch etwas aufgefallen?

Matthäus: Spieler sollten dort spielen, wo sie es gewohnt sind und wo sie ihre Laufwege, taktische Verhaltensweisen kennen. Geschwindigkeit nach vorne ist das A und O, das sage ich schon seit einigen Jahren. Wie Barcelona vor zehn Jahren zu spielen, das braucht und will keiner mehr. Die Erfolgsformel lautet: Zweikämpfe gewinnen, danach schnellstmöglich in die Tiefe spielen; dem Gegner die Zeit nehmen, sich zu organisieren. Gegen kompakte Mannschaften braucht es moderne Außenverteidiger, die im Eins-gegen-Eins auf dem Flügel zur Waffe werden. Ein Mittelstürmer ist unumgänglich. Nicht so wie bei Deutschland, derzeit haben wir keinen. In der Ausbildung muss man das erkennen und fördern.

STANDARD: Der Fußball wird immer mehr aufgeblasen. Die WM wird auf 48 Teams erweitert, bei der EM denkt man an eine Aufstockung auf 32 Teams. Macht das noch Sinn?

Matthäus: Ich bin für mehr K.-o.-Spiele. Die Gruppenspiele bei der EM waren nur Geplänkel. Danach ging es zur Sache, spannend und qualitativ hochwertig. Italien gegen Österreich – das ist doch genau der Fußball, den Fans sehen wollen. Wenn ein Team verliert, hat es nichts mehr im Wettbewerb zu suchen. Freilich freut sich ganz Portugal, dass sie vor fünf Jahren mit drei Unentschieden Europameister wurden. Von mir aus kann eine WM noch mehr Teilnehmer haben. Ich kann Ihnen das vorrechnen.

STANDARD: Bitte darum.

Matthäus: Mit 64 Mannschaften und einem K.-o.-Modus von Beginn an führt der Weg zum Titel über sechs Spiele. Derzeit sind es sieben. Klar, für 32 Mannschaften bedeutete dies ein schnelles Ende.

STANDARD: Werden Spieler nicht dennoch immer mehr belastet?

Matthäus: Ich kenne keinen Bayern-Spieler, der sich über Belastung aufregt. Die mögen es sogar, mittwochs und samstags ein Match zu spielen und weniger zu trainieren. Das ist die Bayern-DNA. Wir haben früher auch nicht geweint, hatten zudem weniger Spieler. Eine Rotation mit 22 fast gleichwertigen Spielern war früher nicht möglich. Da waren 13 Profispieler für die erste Mannschaft, der Rest bestand aus Nachwuchsspielern. Sicher, der Fußball ist schneller, athletischer geworden. Dafür gibt es die Möglichkeit, fünfmal pro Spiel zu wechseln. Diese Belastung kann man mit all den heutigen Möglichkeiten ganz gut steuern.

STANDARD: Mit wie vielen Punkten Vorsprung wird Bayern heuer Meister?

Matthäus: Die Favoritenrolle ist nicht mehr so deutlich wie in den Jahren zuvor. Mit den Abgängen – darunter Alaba, Boateng, Martinez – ging Qualität auf dem Platz verloren. Auch die Hierarchie und Stimmung in der Kabine ändern sich. Zudem sind Hansi Flick und Karlheinz Rummenigge weg, es gibt also viel Umbruch. Der Druck liegt auf den Schultern der Großen.

STANDARD: Auch in Österreich, bei Salzburg?

Matthäus: Sie müssen sich unter dem neuen Trainer erst wieder finden. Man muss sich nicht daran gewöhnen, dass Bayern und Salzburg permanent Meister werden. Paris hat es in diesem Jahr auch nicht geschafft. Es gibt immer wieder Überraschungen. Ich würde mir von den Zweit- und Drittplatzierten der vergangenen Saison eine mutige Ansage wünschen. Sie sollten an sich selbst glauben, anstatt von Beginn an Salzburg zum Meister zu krönen. Die sind auch schlagbar; und ja, auch über ein Jahr gesehen. Es ist schwierig, aber Glaube kann Berge versetzen. Der Lask war schon einmal nah dran. Solche Dinge wie das verbotene Training dürfen nicht passieren. Die Herausforderer sollten nicht nervös werden. Es sollte ihnen Spaß machen, in einer Situation zu sein, den Großen ein Bein stellen zu können.

STANDARD: Die österreichische Bundesliga führt den Videobeweis ein. Was erwartet uns?

Matthäus: Nur bei klaren Fehlentscheidungen sollte der Videoschiedsrichter einschreiten. Es wird nie hundertprozentige Entscheidungen geben. Es ist vielleicht ganz gut, dass der VAR in Österreich erst jetzt kommt, weil man von den anderen Ländern lernen kann. Insgesamt macht es den Fußball aber fairer, die ganz krassen Geschichten bleiben aus. Es wird Diskussionsstoff geben. Ich wünsche den Österreichern weniger Diskussionen als in Deutschland in den letzten drei Jahren. (Lukas Zahrer, 23.7.2021)