Ein philosophisch-politischer Denker, ein begnadeter Satiriker und ein Abenteurer des Geistes, der Genregrenzen sprengte: Friedrich Dürrenmatt.

Foto: Zurich Film Festival

Weiß der Kosmos, warum es mich ausgerechnet in Dürrenmatts Jubiläumsjahr – der Schweizer Schriftsteller, Dramatiker und Maler Friedrich Reinhold Dürrenmatt wäre heuer 100 Jahre alt geworden – zu einem Schreibaufenthalt in die Schweiz verschlägt. Seit der Matura habe ich keinen Gedanken an Die Physiker, Die Panne oder Der Besuch der alten Dame verschwendet.

Doch dann entdecke ich ein verstaubtes Bücherregal mit seiner Lektüre und fange, mit zunehmender Begeisterung, zu lesen an. Seit 26. Juli 2000 gibt es "Dürrenmatt" übrigens auch im All: ein nach ihm benannter Hauptgürtel-Asteroid 14041. Aber das nur nebenbei, in dieser Story geht es um sein literarisches Universum.

Meine Dürrenmatt-Geschichte beginnt in Bern. Es ist Februar 2021 und es regnet seit Tagen. Corona macht meinem Gemüt zu schaffen, und das bäuerlich-geruhsame Bern ist da nicht gerade hilfreich. Mittelalter – wohin man schaut. Grünstich und Schlammtöne im Stadtbild. Brave, leicht durchsichtige Bürgerinnen und Bürger. Ab 14 Uhr wird "Froher Abend" gewünscht. Das macht müde.

Gedanken und Geschichten

Immerhin haben die Buchläden geöffnet, weil Bücher hier im Gegensatz zu Österreich zum lebensnotwendigen Bedarf gehören. Ich wohne in einem denkmalgeschützten Altstadthaus, das in jedem Reiseführer abgebildet ist. Sogar mein Schlafzimmerfenster kann man sehen. "Das Haus Nydeggstalden Nr. 22 aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zeigt eine gut erhaltene spätgotische Quaderfassade ... Während die gegenüberliegende Hauszeile zwischen 1956 und 1961 im Sinne einer die Altstadt imitierenden Sanierung neu gebaut wurde, hat die Zeile mit den geraden Nummern wesentliche Teile der historischen Bausubstanz bewahrt."

Der Boden knarzt, die Decken sind niedrig. Ich fühle mich gedrückt, Bern drückt mich. In der ersten Nacht im fremden Bett träume ich, dass ich schrumpfe. Ich bin sicher, ich werde schrumpfen. Klein, gebückt und hunzlig werden, obendrein grün, wie die Figuren bei Dürrenmatt, die nicht umsonst Herr Green oder Herr Grünspan heißen.

Weil Lesen in einem Zustand der inneren Unruhe, des Ungleichgewichts immer hilft, greife ich ins verstaubte Bücherregal. Der Besuch der alten Dame – um Gottes willen, Dürrenmatt!, denke ich und versuche, mich an den Inhalt zu erinnern, aber die Matura samt Pflichtlektüreleseliste liegt zu weit zurück.

Doch dann bleibe ich am Klappentext hängen (ja, ausgerechnet, am Klappentext!): "Reisenden, die ihren Weg über die Strecke Kalberstadt–Kaffigen nehmen, wird hiermit dringend empfohlen, in Güllen n i c h t auszusteigen. Das Güllener Wirtschaftswunder mit seinem kulturellen Aufschwung und seinem ganzen Wohlstand beruht auf einem Mord, verübt von den Einwohnern des freundlichen Städtchens an ihrem 65-jährigen Mitbürger Alfred Ill, welcher nicht besser und nicht schlechter war als sie."

Ich muss unweigerlich an meinen Heimatort Aurach am Hongar denken, wo der Besuch einer alten Dame bestimmt Ähnliches auslösen würde, man liest ja immer subjektiv und aus der momentanen Befindlichkeit heraus – entsprechend groß und elastisch gestaltet sich der Interpretations- und Assoziationsspielraum von Text. Jedenfalls hat er mich da bereits.

Angst als messbare Größe

Anders als früher passen die Dürrenmatt’schen Gedanken und Geschichten jetzt in meine Zeit, erschließen sich mir. Anders als früher bin ich alt. Und ich habe zunehmend ein Problem mit der Ungerechtigkeit und dem Ungleichgewicht der Welt.

Nur kurz, weil das hier ist kein Deutschunterricht, (lesen muss man schon selbst), drei seiner Randnotizen aus Der Besuch der alten Dame, das sich als Tragikomödie von der Käuflichkeit des Menschen entpuppt. "Gegenwart": Steinbruch, aus dem ich die Blöcke zu meinen Komödien haue. "Geld": wichtig. "Angst": Hier keine metaphysische Größe, sondern eine meßbare. Klebt an den Gegenständen. Dürrenmatt [...] nichtet nicht, wird aber öfters von Kritikern vernichtet. Das Nichts tritt als Goldzahn auf.

Meine Goldzähne wackeln, ich muss lachen, wie er (sich) die Welt erklärt. Weiter geht’s mit seinem zweiten Welterfolg Die Physiker, eine Parabel von der Bedrohung der Menschheit durch die Wissenschaft, in der drei Physiker in einer psychiatrischen Klinik leben und ihre Krankenschwestern ermorden, weil sie um ihre Geheimnisse (u. a. die Weltformel) fürchten.

Auch aus diesem Werk und aus dem Kontext gerissen ein paar meiner Lieblingszitate: "Bin ich eigentlich verrückt?" (Inspektor) – eine Frage, die sich mir tagtäglich stellt. "Hier dürfen nur die Patienten rauchen und nicht die Besucher." (Newton) "Die Gerechtigkeit macht zum ersten Male Ferien, ein immenses Gefühl." (Inspektor). Ich finde, das ist zum Totlachen.

Dann: Die Panne, eine Groteske über die Gedankenlosigkeit und Schuld des Individuums, die die Geschichte des Hephaiston-Kunststoff-Generalvertreters Traps erzählt, der nur getötet habe, weil es ihm das Natürlichste sei, jemanden an die Wand zu drücken, rücksichtslos vorzugehen, geschehe, was da wolle. Auch grandios: In diese Welt der Pannen führt unser Weg, an dessen staubigem Rande nebst Reklamewänden für Bally-Schuhe, Studebaker, Eiscreme und den Gedenksteinen der Verunfallten sich noch einige mögliche Geschichten ergeben, indem aus einem Dutzendgesicht die Menschheit blickt, Pech sich ohne Absicht ins Allgemeine weitet, Gericht und Gerechtigkeit sichtbar werden, vielleicht auch Gnade, zufällig aufgefangen, widergespiegelt vom Monokel eines Betrunkenen.

Moralische Motive

Je mehr ich Dürrenmatt lese, desto mehr werde ich zu seinen Figuren, zu seinen Orten, zu ihm selbst. Ich bin derart begeistert, dass ich zu recherchieren anfange. Wer war/ist die Person, die so denkt und schreibt?

Friedrich Reinhold Dürrenmatt wird am 5. Jänner 1921 in Stalden im Emmental geboren, der Vater ist reformierter Dorfpfarrer, was seine moralischen Motive wie Schuld, Verzeihen und Verantwortung erklären könnte, wobei er selbst sagt, ich stelle eine Welt auf, keine Moral, wie man mir bisweilen andichtet.

Fratzen einer unsicheren Zeit: Bild aus Dürrenmatts Studentenbude, die er mit Wandmalereien versah.
Foto: Michael Pekler

1935 zieht er mit der Familie nach Bern, wo er ab 1941 Philosophie, Naturwissenschaften und Germanistik studiert. (Das Fortbestehen als Asteroid könnte ihm gefallen haben). Er wohnt in einem Mansardenzimmer, genau wie ich, er zeichnet und malt – Skizzen, Bühnen- und große Wandbilder –, die später übertüncht und erst Anfang der Neunzigerjahre wiederentdeckt, freigelegt und restauriert werden (Dürrenmatt-Mansarde).

Auch meine Wenigkeit hat in der Schweiz wieder zu zeichnen begonnen, zum Beispiel den Fuß von Bürgermeister Michael Ludwig oder ein Ufo mit der Dürrenmatt’schen Botschaft Lass fahren dahin!

Mischformen

Die folgenden 38 Jahre verbringt der Schriftsteller aber nicht in Bern oder Zürich, sondern in der französischen Schweiz: in Basel (1946), am Bielersee (1948) und schließlich, in seinem Dauerwohnsitz mit Traumblick auf den Neuenburgersee in Neuchâtel (ab 1952), in dem sich das heutige Centre Dürrenmatt befindet.

Bestimmt ist auch ihm in Bern die Decke auf den Kopf gefallen; es gibt dort einfach zu wenig (Gedanken-)Spielraum nach oben hin, (man memoriere: die niedrigen Räume). Vielleicht bedingt wenig Raum aber auch sprachliche Präzision? Eine Orientierung an dem, was real und sichtbar, oder andersherum, surreal und unsichtbar ist?

Ich empfinde seinen Schreibstil als angenehm schlicht und gleichzeitig vielsagend. Ist es das, was ich jetzt an ihm mag und früher nicht mochte? Ist es (m)eine altersbedingte Sehnsucht nach Klarheit, nach Präzision, nach Moral? Liegt es an der Pandemie, dass alles – auch das Literarische – schnell zu viel ist, es zurzeit einfach keine Adjektiv- oder Metapher-Fluten braucht, sondern möglichst überschaubare, geradlinige Texteinheiten?

Früher fand ich seinen Stil zu banal, zu direkt, zu moralinsauer, jetzt kommen mir sein epischer Theateransatz, seine Verfremdungen, seine tragisch-grotesken Elemente, mit denen sich Unvereinbares mühelos verbinden lässt, genau richtig vor. Was passt besser in diese (meine) Zeit, als die Mischform aus Tragödie und Komödie, die sich konsequent durch alle seine Werke zieht, oder in seinen eigenen Worten die einzig mögliche dramatische Form darstellt, heute das Tragische auszusagen.

Bei meinen Recherchen über Dürrenmatt stoße ich auch auf die, erstmals 1994 posthum erschienene, Geschichte: Eine Virusepidemie in Südafrika, die mir wahrscheinlich aufgrund der Corona-Aktualität ins Auge springt.

Er erzählt darin, wie ein gefährliches Virus zur Zeit der Apartheit Südafrika befällt und über Nacht weiße Menschen schwarz werden lässt – die Dürrenmatt’sche Ironie lässt grüßen. In der Folge besteht die weiße Herrscherschicht darauf, dass jeder ein Emaille-Schild tragen muss: die schwarz gewordenen Weißen ein weißes mit der schwarzen Aufschrift "weiß", die anderen umgekehrt. Unbedingt lesen!

Denken, atmen, leben

In Bern hat endlich der Regen aufgehört. Und mit ihm verabschiede auch ich mich aus dieser Stadt, die ja vielleicht im Sommer ganz nett sein mag, steigt man dann doch in Badekleidung im Marzilibad oder bei der Kirchenfeldbrücke in die Aare, lässt sich einmal quer durch die Stadt treiben, am Bundeshaus, am Münster, am Botanischen Garten vorbei, um schließlich im Lorraine-Bad wieder an Land zu gehen. Nicht so im Februar.

Die Schweiz muss mehr zu bieten haben als Bern, denke ich und breche auf: nach Zürich, Lausanne, nach Biel, Gstaad, Neuchâtel. Endlich wieder reisen! Endlich wieder mehr Luft haben – zum Denken, zum Atmen, zum Leben. In der Fremde automatisch leichter werden, mit jedem Kilometer leichter werden, der mich von Bern entfernt (und von Aurach am Hongar sowieso).

Mit im Gepäck: Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter – ein Buch in 24 einzelnen Sätzen geschrieben, Der Meteor, Dürrenmatts vielleicht persönlichstes Stück, mit dem er 1966 den dritten und letzten Welterfolg als Dramatiker feiert, Grieche sucht Griechin – ich erinnere mich dunkel an die Filmversion aus den 1970er-Jahren mit Heinz Rühmann und Irina Demick in den Hauptrollen, Midas oder Die schwarze Leinwand – so schreibt man ein Drehbuch!!! –, und den Gedichtband Das Mögliche ist ungeheuer – denn das ist es.

Natur ohne Menschen

In Zürich gleich einmal Glück haben. So ankommen, dass gerade ein Ausflugsschiff am Bürkliplatz anlegt, ein Schiff wird kommen, den glitzernden Zürichsee überqueren, Tina Turner in Küsnacht zuwinken. Entlang der Limmat durch die Altstadt wandern, eine Stiege ins Nichts entdecken, ein Glas Champagner trinken, sich von der Inschrift auf einem Marmorsockel beflügeln lassen: "Wie im Morgen Glanze / Du Rings mich anglühst / Frühling, Geliebter!", fröstelnd mit der S-Bahn auf den Uetliberg fahren, in der Dämmerung auf die Stadt blicken – alles hier ist groß und weit.

Dann, Glitzerschnee und ein Swiss-Lotto-Schein in Gstaad, (allmählich geht mir das Geld aus), aber aus dem verkitschten, Touri-Kitzbühel-Pendant der Schweiz will ich einfach nur flüchten, trotz Gondelfahrt zum Saanersloch mit schier unglaublichem Gipfelpanorama. Natur ist dann schön, wenn sie ohne Menschen ist.

In meinem Dürrenmatt-Lesemarathon bin ich mittlerweile bei Grieche sucht Griechin angelangt, und diese Prosakomödie, so der Untertitel, ist die erste, mit der ich wenig anfangen kann. Der Plot ist noch ganz witzig: Ein unwichtiger Unterbuchhalter eines Unterbuchhalters in der Geburtszangenabteilung einer Riesenfirma gibt eines Tages eine Heiratsanzeige auf – sein Leben erscheint ihm dann doch zu schal: "Grieche sucht Griechin", so der Text, und prompt lernt der dickliche Junggeselle eine äußerst attraktive Frau kennen, die sich am Ende – der große Schreck! – als Hure entpuppt.

Tja, nun, für mich dann doch etwas zu klischee- und possenhaft, das Ganze. Da werfe ich, quasi als Begleitlektüre, lieber einen Blick in Deformierte Weiblichkeit bei Friedrich Dürrenmatt von Sabine Schu. Dennoch schön, die Wiederentdeckung des famosen Wörtchens "direktemang" auf Seite 110, das ich ab sofort zu reaktivieren gedenke.

Direktemang also weitergereist nach Biel, wo mich am "End der Welt" der Saharastaub überrascht: Die ganze Stadt gleißt rosarot. Und erst Lausanne! Was für eine Lebens- und Sexenergie, es riecht sogar nach Meer, was am Genfer See wohl kaum sein kann.

Der leere Raum

Meine letzte Schweiz-Destination ist Neuchâtel. Ich halte wenig vom Aufsuchen von Geburts- oder Wohnstätten berühmter Zeitgenossen – dadurch kommt man ihnen und ihrem Tun bestimmt nicht näher. Aber Dürrenmatt hat mich jetzt schon so lange beschäftigt, dass ich auch den steilen Anstieg zum "Centre Dürrenmatt" noch mitnehme. Und ja, der Blick auf die Stadt, den See ist ein Traum. Seit 2000 steht das Gebäude Literaturinteressierten zur Besichtigung offen.

Ich werfe einen Blick in die "Sixtinische Kapelle", eine Gästetoilette, in der Dürrenmatt jeden Quadratzentimeter mit farbenfrohen Figuren bemalt hat. Eine kleine, schwarze Spinne krabbelt über das grüne Haar einer Nackten. Ich greife in meiner Manteltasche nach dem schmalen Band Die Panne: Was wird kommen? Was wird die Zukunft bringen?, heißt es da in einem vorangestellten Zitat von Kierkegaard. Ich weiß es nicht, ich ahne nichts. Wenn eine Spinne von einem festen Punkt sich in ihre Konsequenzen hinabstürzt, so sieht sie stets einen leeren Raum vor sich, in dem sie nirgends Fuß fassen kann, wie sehr sie auch zappelt. So geht es mir; vor mir stets ein leerer Raum; was mich vorwärtstreibt, ist eine Konsequenz, die hinter mir liegt. Dieses Leben ist verkehrt und grauenhaft, nicht auszuhalten.

Hm. Man weiß so vieles und so vieles nicht. Die Hoffnung liegt vielleicht im Versuch, im Versuchen. Ich bin jedenfalls froh, es mit Dürrenmatt noch einmal versucht zu haben. Ich schiebe das Buchcover unter den schwarzen Körper und lasse die Spinne frei. (Daniela Emminger, ALBUM, 24.7.2021)