Legt ihren sechsten Roman vor: Doris Knecht.

Foto: Heribert Corn www.corn.at

Die erste Nachricht kam an einem Sonntag im September. Ich saß auf der Bank im Schatten hinter dem Haus und rauchte eine Zigarette, Laptop auf den Knien, und ich ahnte nicht, dass das der Moment war, in dem sich meine Verhältnisse verschoben, erneut, ganz leicht nur.

Wolf saß neben mir, schaute in sein Handy und rauchte nicht. Er hasste das Rauchen, seit er vor ein paar Monaten damit aufgehört hatte, und versuchte jetzt, jeden zu missionieren, der es immer noch tat. Normalerweise vermied ich es in seiner Gegenwart, aber ich hatte mich den ganzen Nachmittag auf diese Zigarette gefreut und versuchte jetzt, sie mir schmecken zu lassen, mit zügig nachlassendem Erfolg.

Die Nachricht wartete im Postfach meines Facebook-Accounts, dem offiziellen. Ich habe zwei Accounts, einen unter meinem Namen und einen privaten unter einem Namen, den nur meine Freunde kennen. Ich erinnere mich an gelbes Herbstlicht, an laue Luft und an die Farbe des Himmels über mir: ein grünliches, warmes Blau, verschmiert von zerlaufenden Kondensstreifen.

Wolf und ich waren den ganzen Tag am Berg gewesen, jetzt waren wir zurück zu Hause, zufrieden erschöpft, wir tranken Wein nebeneinander auf der Bank an der Hauswand, und ich spürte, dass ich lieber allein gewesen wäre. Ich hätte lieber allein geraucht, ungestört meine Mails gelesen, Instagram, Twitter und die News durchgesehen.

Person ohne Gesicht

Die Nachricht kam von einer Person ohne Gesicht und mit dem Namen Ernst Breuer. Erst wollte ich sie einfach ungeöffnet wegdrücken, aber dann besiegte mich die Neugier. Gerade als ich die Nachricht anklickte, machte Wolf eine Handbewegung, ein ganz leichtes Wegwedeln des Rauchs meiner Zigarette.

Ich stand auf und sagte: "Soll ich mich woanders hinsetzen?"

"Aber nein, alles gut", sagte Wolf mit so einem zart gequälten Dulder-Ausdruck im Gesicht, und ich setzte mich doch auf die andere Seite der Bank, mit meinem Weinglas in der einen und dem MacBook in der anderen Hand, zwischen den Lippen die Zigarette, die mir nicht mehr schmeckte. Ich hätte sie einfach ausdrücken können, aber es war meine Lunge, meine Luft, mein Leben.

Die Nachricht des Gesichtslosen enthielt nur einen Satz: Weisst du eigentlich von der Affaire deines prächtigen Ehemannes?

"Trump, der Idiot", sagte Wolf, "fängt noch den Dritten Weltkrieg an." Er hatte Sonnenbrand auf Stirn und Glatze. Ich fand kurz nicht die richtige Reaktion auf das, was er gesagt hatte, die Information steckte halb verarbeitet in meinem Gehirn, überdeckt von einem feinkörnigen, hellgrauen Rauschen, aber Wolf brauchte gar keine Reaktion.

"Ich habe Hunger", sagte er, "soll ich uns was zu essen bestellen?"

"Okay", sagte ich.

"Pizza oder Sushi?", sagte Wolf. "Oder lieber indisch?"

"Egal", sagte ich und drückte jedes Wort durch das Rauschen heraus.

"Dann Sushi", sagte Wolf, "bestellst du?"

Groteske Wölbung

Wolf hatte doch eben gesagt, er wolle bestellen, aber bitte. Ich schloss die Nachricht und versuchte, das Hellgrau in meinem Kopf leiser zu drehen. Ich sagte: "Warte, ich frag noch Sophie, ob sie auch was mag. Die darf ja kein Sushi." Ich drückte den Rest meiner Zigarette in die tote Erde des Blumentopfs neben der Bank. Ich klickte Facebook weg und öffnete Whatsapp.

Meine Stieftochter wohnte normalerweise in meiner alten Studentenwohnung in Wien, aber jetzt lag sie hinter halb heruntergelassenen Rollos auf ihrem Bett in ihrem alten Zimmer, schaute Netflix auf ihrem Laptop und tippte gleichzeitig in ihr Smartphone, der dicke Bauch verpasste ihrem langen, mageren Mädchenkörper eine groteske Wölbung.

Ich öffnete Whatsapp und sah, dass Sophie online war. Wir bestellen Essen, du auch was? Eine Krähe schrie vom Nachbardach herüber, in diesem beleidigten Tonfall, den Krähen immer draufhaben. Unter Sophies Namen erschien sofort der Hinweis, dass sie zurückschrieb, und ein paar Sekunden später ploppte ihre Nachricht auf: thx, grad gegessen und das Herzaugensmiley. Ok!, schrieb ich und drückte ein Herzchen dazu.

Wolf starrte immer noch auf sein Handy. Ich hatte ihn auf der Uni kennengelernt, aber im Unterschied zu mir hatte er sein Kunststudium irgendwann abgeschlossen und lebte in Wien, in einer Wohngemeinschaft, wie damals, nur waren seine Mitbewohnerinnen jetzt halb so alt wie er.

Viel zu nah

"Sushi ist okay", sagte ich, "Sophie mag nichts."

"Gut", sagte Wolf. Ich öffnete die Speisekarte vom Sakura Palace. Wolf beugte sich über meinen Laptop und drückte sich an meine Schulter, er war mir zu nah, viel zu nah. Weisst du eigentlich von der Affaire deines prächtigen Ehemannes? Ja, Ernst Breuer, ich weiß von der Affäre, das weiß ich schon seit einiger Zeit. Die Frage ist, warum du es weißt.

"Ich hätte gern California-Maki, zwölf Stück, und, warte, ja, ein großes Sushi", sagte Wolf. Ich klickte noch Tempura-Maki mit Garnelen, ein paar Frühlingsrollen und zwei Flaschen japanisches Bier in den Warenkorb und schickte die Bestellung ab.

Wolf sagte etwas über die Situation in Nordkorea und wischte weiter über sein Smartphone. Ich las nochmal die Nachricht. Nicht wichtig. Merkwürdig ja, aber nicht wichtig, nur ein Versuch, mich zu ärgern, nicht der erste. Ich klickte die Nachricht an, las sie nochmal und beantwortete sie. Ich schrieb: "Sg. Herr Breuer, danke für die Info, kümmern Sie sich doch um Ihren eigenen Dreck, mfG."

Vorübergehender Fehler

"Ist alles okay?", sagte Wolf.

"Jaja", sagte ich. Ich drückte auf Absenden. Facebook informierte mich in roter Schrift, dass ein vorübergehender Fehler aufgetreten sei: Zum erneuten Senden klicken. Ich klickte erneut, wieder die rote Fehlermeldung. Ich öffnete die Messenger-App und die Nachricht ploppte auf, aber sie hatte jetzt keinen Absender mehr, ich konnte auf die Unterhaltung nicht antworten. Ernst Breuer gab’s schon nicht mehr, es hatte ihn nie gegeben.

"Ist wirklich alles okay?", sagte Wolf.

"Ja, nur wieder so eine dumme Nachricht von einem Troll, der sich an mir festbeißt", sagte ich.

"Was steht drin?", sagte Wolf, immer interessiert an den Abgründen der Menschen. Er las alles, was er über Serienkiller in die Hände bekam, und sah sich am liebsten Filme an, in denen Menschen auf verheerend unnatürliche Weise zu Tode kamen. Ich wäre jetzt wirklich lieber allein gewesen.

"Ach, nichts Wichtiges", sagte ich. Nichts Wichtiges, nur ein paar Buchstaben in einem virtuellen Briefkasten, nichts Echtes, nichts Reales. Mein Mann ist tot, also fuck you, Ernst Breuer.

Beschimpfungen und Liebeserklärungen

Als Ludwig starb, dachte ich, mir könne nicht mehr viel passieren. Ich fühlte mich sicher. Ich hatte überlebt, dass mein Mann gestorben war, was sollte noch geschehen. Das glaubte ich damals jedenfalls.

"Wann bist du mal wieder in Wien?", fragte Wolf.

"Ich weiß noch nicht genau", sagte ich. "Wahrscheinlich wenn Sophies Baby da ist. Sie bleibt jetzt erst mal hier. Sie ist in einer Geburtsklinik in der Nähe angemeldet."

"Wann ist es denn so weit?", fragte Wolf.

"In ein paar Tagen", sagte ich.

"Aufregend", sagte Wolf.

Die Nachricht schwamm langsam aus meinem Bewusstsein heraus. Ich war sowas gewohnt, noch aus der Zeit, als das Internet neu war. Irgendwelche Kerle hatten mich im Fernsehen gesehen, wo ich damals ein Kunstmagazin moderierte, und sie schrieben mir Briefe oder Postkarten, mit Beschimpfungen und Liebeserklärungen oder beidem gleichzeitig.

Die meisten warf ich ungelesen weg, die schlimmeren schickte ich an die Chefredaktion weiter, die sie dann wegwarf. Später kamen Mails, im Affekt geschrieben, schnell abgeschickt von Gmail-Konten, und inzwischen blockierte ich auf Twitter regelmäßig die lästigsten Stalker, die rücksichtslosesten Beschimpfer, die Vergewaltigungsdroher.

Ich hatte gedacht, es würde aufhören, wenn man älter wird, aber das tat es nicht. Ich hatte mich daran gewöhnt, solche Nachrichten nicht ernst zu nehmen, so wie alle Frauen, die sich auch nur ein bisschen in der Öffentlichkeit bewegten. Es gehörte eben dazu, wenn man eine Frau war, und wenn man sich zur Wehr setzte, wurde es nur schlimmer; nicht für die Männer, gegen die man sich wehrte, sondern für die Frauen, die es wagten. Ich war es gewohnt. Ich nahm es nicht ernst.

Kräftemessen

Es gab in meinem Leben viel wichtigere Dinge. Mein Mann war vor drei Jahren gestorben, und noch immer war ich mit den Problemen konfrontiert, die er früher gelöst hatte.

Wie sehr es ein Jetzt gab und ein Dann, das bemerkte ich erst später. Damals dachte ich noch, ich sei die Architektin meines Glücks und ich könne alles, was nicht durch Krankheit und Tod, Naturkatastrophen und schreckliche Unfälle über mich hereinbräche, kontrollieren, beeinflussen und abwenden. Damals dachte ich noch, dass ich, anders als andere in meinem Umfeld, mein Leben im Griff hätte, weil ich mich für stärker, schlauer, abgehärteter und robuster hielt als sie.

War ich vielleicht auch, aber es half mir nichts, im Gegenteil. Es fordert Leute heraus, wenn sie deine Stärke spüren und deine Unabhängigkeit, und manche von ihnen wollen dir das dann wegnehmen. Sie wollen dir zeigen, dass du gar nicht so stark bist und so unabhängig, wie du glaubst. Und sie beginnen ein Kräftemessen, ihre Kraft gegen deine, ohne dass du es merkst, und dann merkst du es. (Doris Knecht, Vorabdruck "Die Nachricht", ALBUM, 24.7.2021)