Die Gesprächsinsel ist ein unscheinbarer Ort in einem sehr wohl scheinbaren Gebäude. Steht man vor der südlichen Seite des Schiffs der Schottenkirche im ersten Wiener Gemeindebezirk, direkt an der Freyung, befindet sie sich rechts unten, gleich angrenzend zur Apotheke. Die beiden etwas höher angesetzten Fenster sind vergittert, ein vertikaler Schriftzug weist auf ihre Existenz hin.

Innen muss man lediglich durch eine undurchsichtige Glastür schreiten, schon steht man in einem Hort der Ruhe. Eine hohe Decke, warme orangene Wandfarbe, und obwohl beide Fenster weit offen sind, hört man kaum ein Geräusch von draußen.

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Hierher kommen Menschen mit ihren Problemen. Welche Probleme das sind, ist zweitrangig. Es sind Menschen, die jemanden mit einer Tugend brauchen, die in unserer schnelllebigen Zeit gerne auf der Strecke bleibt: das Zuhören.

Drei davon, Schwester Nathanaela Gmoser, Manfred Mahr und Magdalena Pfauser-Czak, zeigen auf, wie unterschiedlich die Zuhörer auf der Gesprächsinsel sind. Gmoser ist Ordensschwester, was ihre grau-weiße Ordenskleidung unschwer erkennen lässt. Sie war es leid, nur in der Verwaltung zu arbeiten. Mahr hat Musikwissenschaften und Kunstgeschichte studiert, hat aber auch eine Psychotherapieausbildung. Und Pfauser-Czak hat ihr Leben lang mit Fremdsprachen gearbeitet, ehe sie sich in der Pension dazu entschieden hat, noch einmal Theologie zu studieren. Sie alle verbinden zwei Dinge, gleichzeitig die Voraussetzungen, um auf der Gesprächsinsel zu arbeiten: eine Ausbildung in Gesprächsführung und ein christliches Weltbild.

STANDARD: Mit welchen Problemen kommen die Menschen auf die Gesprächsinsel?

Gmoser: Mit allen. Es gibt keine Kategorisierungen. Wir versuchen zwar, es für uns zu ordnen, aber wenn diese Tür aufgeht, weiß man nicht, wer kommt und was er mitbringt. Es ist immer eine Überraschung. Es gibt die banalsten Dinge, von denen man sich teilweise nicht gedacht hat, dass sie so belastend sein können, aber es ist für die Person belastend, bis hin zu Dingen, wo man sich fragt, wie kann ein Mensch überhaupt aufrecht hier reinkommen, wenn er so einen Rucksack mit sich trägt.

"Wenn der sehen würde, mit wem er hier redet, würde er das vielleicht nicht so tun", erzählt Schwester Nathanaela Gmoser über die Zeit der Telefon seelsorge während der Lockdowns.
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Mahr: Ich hatte mal eine ältere Dame da, die lebte in einer 200-Quadratmeter-Wohnung. Und das war ihr einfach zu viel zum Reinigen, und sie wollte sich auch keine Putzfrau holen. Dann gibt es wiederum Leute, die Stimmen hören und sich nicht ins Spital trauen, weil sie Angst haben, dass sie dann im System drin seien und aus diesem Kreislauf nicht mehr herauskommen.

Pfauser-Czak: Beziehungsfragen, Menschen, die Angehörige pflegen und sehr erschöpft sind, andere, die wiederum in Parallelwelten leben und in Therapie sind, die aber jemanden brauchen, der nicht fragt, ob man auch die Medikamente genommen hat, sondern jemanden, der einfach nur zuhört.

Alle drei erzählen ihre Standpunkte mit sehr beruhigenden Stimmen. Man merkt man von Anfang an, dass sie vom Fach sind. Zum einen fallen sie einander nie ins Wort, lassen die andere Person aussprechen. Zum anderen haben sie diese Ausstrahlung, die nur wenige Menschen haben, dass man ihnen vertrauen möchte. In dieser Konstellation kommen sie selten zusammen, Mahr und Pfauser-Czak sind nur selten da, Schwester Nathanaela Gmoser eine der wenigen Personen, die hauptberuflich auf der Insel zuhört.

STANDARD: Werden Sie auch von Freundinnen bzw. Freunden und Familien wegen Ihres Berufs öfter zurate gezogen?

Mahr: Vielleicht sogar weniger. Man darf nie in diesen Psychotherapeutenmodus wechseln, da macht man sich leicht Feinde.

"Man darf nie in diesen Psychotherapeutenmodus wechseln, da macht man sich leicht Feinde", sagt Manfred Mahr über seine Arbeit.
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Pfauser-Czak: Wir hören gerne zu, und das war vorher auch schon so. Durch die Arbeit hat sich das nicht verändert.

Gmoser: Bei Freunden und Familien hat man ja auch einen viel größeren Kontext drumherum. Hier höre ich nur, was die Person mir sagt. Ich glaube das, ich muss das glauben. Diese Geschichte höre ich mir an, diese nehme ich ernst. Im Privaten bin ich emotional viel tiefer verstrickt, hier kenne ich die Person in der Regel nicht.

Wir sitzen um einen runden Holztisch im Empfangsraum der Insel. Hier findet nur dann ein Gespräch statt, wenn der eigentliche Raum direkt neben uns besetzt sein sollte. Die Gesprächsinsel sieht sich als erste Anlaufstelle. Sie möchte keine Probleme lösen, sondern den Menschen, die es brauchen, dabei helfen, ihre eigenen zu erkennen.

STANDARD: Wie geht man dabei vor?

Mahr: Die Menschen nehmen Platz, und ich frage, was sie zu uns geführt hat. Es ist wie ein Puzzle. Nach einer Zeit hat man eine gewisse Routine, und je länger das Gespräch dauert, desto mehr Teile setzt man zu einem Bild zusammen.

Pfauser-Czak: Es ist im Wesentlichen ein Hinhören. Und dann kommen klärende Fragen dazu, in erster Linie für einen selbst, ob man es jetzt richtig verstanden hat. Aber wenn Menschen dann da stocken, fragt man sich, ob man gerade an ein ursächliches Thema gerührt haben könnte, und versucht eventuell behutsam weiterzufragen. Denn das muss natürlich nicht der Fall sein.

"Niemandem ist geholfen, wenn ich es mitnehme": Magdalena Pfauser-Czak über die Herausforderung der Seelsorge.
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Gmoser: Es gibt viele, die kommen rein und sagen, sie wissen gar nicht, wo sie anfangen sollen. Aber im Laufe der Zeit ordnet man das. Wir sind ja auch nicht dazu da, um in einem Gespräch alles zu lösen. Es ist der erste Schritt, den die Menschen hier gehen. Wir helfen meistens dabei, der Person erst einmal selber klarzumachen, was das eigentliche Problem ist.

Mahr: Wir haben ja keinen klinischen Auftrag. Wir müssen kein Protokoll schreiben oder so etwas. Der Mensch, der kommt, bestimmt, wohin die Reise geht. Natürlich, wenn mir etwas einfällt, dann mache ich einen Vorschlag. Ob er dann angenommen wird, liegt an der Person.

Gmoser: Es kann sehr gut sein, dass ich diese Person nie wiedersehen werde und das eine einmalige Begegnung ist.

Pfauser-Czak: Der Dichter Robert Lax hat es mal so ausgedrückt: Es ist, wie bei einem Selbstgespräch eines Menschen zuzuhören. Der Mensch strukturiert sich selbst, indem er etwas in Worte fassen muss.

Man kann die Gesprächsinsel als eine Art Allround-Seelsorge sehen. Anders als bei der Krankenhausseelsorge geht es hier nicht immer um existenzielle Fragen – und doch kommt es vor.

STANDARD: Wie geht man selbst mit so viel Leid um?

Gmoser: Das Gespräch mit den Kolleginnen und Kollegen ist sehr wichtig. Ich hatte einmal die Erfahrung gemacht, dass ich nach einem Gespräch ziemlich durch den Wind war, das hat eine Kollegin bemerkt und sofort interveniert. Zudem haben wir die Möglichkeit zur Supervision.

Pfauser-Czak: Es ist wichtig, alles hier zu lassen. Niemandem ist geholfen, wenn ich es mitnehme.

Mahr: Es ist auch eine Talentfrage. Wie beispielsweise manche Menschen schwindelfrei sind. Ich habe im Zivildienst gemerkt, dass ich mit schwerkranken Menschen zusammenarbeiten kann und das nicht nach Hause nehme. Ich habe mir gesagt, dass es ihnen durch meine Anwesenheit zwar nicht gut, aber wenigstens ein bisschen besser geht. Und das hat sich nie geändert. Natürlich geht mir manchmal etwas nah, aber es ist alles in einem Rahmen. Meine Arbeit beginnt, wenn ich reinkomme, meine Arbeit hört auf, wenn ich rausgehe.

Die Talentfrage ist ein guter Punkt. Gut zuhören zu können ist die eine Sache, sich nach einer Schicht davon trennen zu können eine andere. Das will unter anderem gelernt sein. Vor allem weil man nie weiß, was einen auf der Gesprächsinsel erwartet.

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Gmoser: Gewalterfahrung. Situationen, in denen Menschen lange Zeit toxischen Umständen ausgesetzt waren. Und das erste Mal, als jemand Suizidgedanken ausgesprochen hat, war hart. Vor allem dann einen kühlen Kopf zu bewahren und zu wissen, was jetzt zu tun ist, während das Gehirn nicht aufhört zu rattern.

Mahr: Wenn bei einem Menschen ein sehr großer Leidensdruck zu spüren ist und man merkt, die Person ist noch nicht bereit, Hilfe anzunehmen.

Die Gesprächsinsel war auch in einer Zeit geöffnet, in der gefühlt mehr Probleme zugegen waren als je zuvor. Steigende Inzidenzen, Lockdowns, Maßnahmen, leere Straßen, volle Köpfe. Zwar waren auch die Räumlichkeiten geschlossen, die Telefonleitungen waren aber intakt.

Gmoser: Da hat mir jemand seine ganzen Beziehungsprobleme mit Fremdgehen und Co erzählt. Da dachte ich mir, wenn der sehen würde, mit wem er hier redet, würde er das vielleicht nicht so tun. (Sie lacht und betrachtet dabei ihre Ordenskleidung.) Aber es war wurscht, wir haben uns gut unterhalten.

Doch es war ja nicht nur der Wechsel auf die Telefonseelsorge, das sich in dieser Zeit geändert hat. Den Einfluss von Corona auf die Gesellschaft habe man vor allem in den Gesprächen mit den Menschen festgestellt.

STANDARD: Inwieweit haben diese Pandemie, die Lockdowns, die Maßnahmen und auch die Hoffnung auf ein Ende all dessen unsere Gesellschaft und unsere Probleme darin verändert?

Mahr: Verändert würde ich nicht sagen, aber vieles hat sich verstärkt. Eine Klientin ist gekommen, weil die Nachbarn so laut waren. Vor Corona konnte man einfacher ausweichen. Es wird oft gesagt, dass Corona als Brennglas fungiert hat.

Pfauser-Czak: Einsamkeit ist mehr spürbar. Das ist zwar nicht immer das primäre Thema, aber wenn man ein bisschen darin rührt, dann merkt man, dass fehlende Kontakte der Ursprung sind, aber man merkt auch oft, dass einfach nie Kontakte da waren. Und es kommt jetzt erst raus. Viele Menschen haben Kumpels, aber keine Freunde.

Gmoser: Und viele merken es erst dadurch, dass sie sich in dieser Zeit hilflos und fast schon nutzlos gefühlt haben, und sagen, sie sitzen nur ihre Zeit ab. Viele soziale Gruppen haben sich auch einfach nicht mehr treffen können, doch das war für viele Menschen ihr einziger Anker.

Die Gesprächsinsel ist eine christliche Einrichtung. Das merkt man nicht nur am Standort oder am Jesu-Kreuz, das hier hängt. Man merkt es auch an den bereits angesprochenen Voraussetzungen für die Seelsorger, vielleicht merkt man es auch an der Ruhe, an der Aura, die die drei Menschen am Tisch ausstrahlen.

STANDARD: Wie groß ist die Rolle, die der Glauben spielt?

Pfauser-Czak: Das ist eine Frage des Menschenbilds. Und dieses Menschenbild bedeutet für mich, dass der Mensch zum Leben geschaffen ist, egal, wie vermasselt auch die Privatkarriere sein mag. Dass man diesem Leben traut.

Mahr: Bei mir ist es die Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Im Judentum sagt man, jeder Mensch ist eine Welt. Das ist eine Aussage, die begleitet mich schon viele Jahre. In jeder Begegnung, die ich hier oder auch privat habe, denke ich an diese Aussage. Dieses Drüberfahren, dieses Ich-weiß-jetzt-alles-von-dir, da bin ich oft in Versuchung, aber ich versuche, mich dann immer am Riemen zu reißen.

Gmoser: Ich mag es einfach, dass ich weiß, dass ich die Sachen hier nicht lösen muss. Jedem, der kommt, wird, wenn er will, von etwas Größerem geholfen. Für mich ist der Glaube wichtig, damit ich auch, wenn ich hier harte Sachen erlebe, jemanden habe, zu dem ich all das tragen kann, nämlich zu Gott. Aber auch während des Gesprächs merke ich manchmal, dass ich nicht weiterweiß. Dann spreche ich ein kurzes Gebet, und meist hilft mir das, eine neue Richtung zu sehen.

Was für die drei zu einem Anker wird, kann für viele Menschen aber auch abschreckend wirken.

STANDARD: Wie geht man auf eine Frau zu, die mit Gedanken an eine Abtreibung nach Rat auf der Gesprächsinsel sucht? Geht das überhaupt neutral?

Pfauser-Czak: Wenn eine Frau mit dem Thema Abtreibung zu uns kommt, dann denke ich mir, ist sie sich nicht sicher. Dann können wir ihr nur dabei helfen, die Situation für sich zu klären. Wie gesagt, wir sind Zuhörer, keine Problemlöser. Ich würde Möglichkeiten aufzeigen, aber hier wird nicht moralisiert.

Gmoser: Ich weiß von einer Kollegin, dass es für sie die schwierigste Situation war, als sich eine Klientin für eine Abtreibung entschieden hat. Ich stelle mir das auch schwierig vor, dabei neutral zu bleiben, aber was heißt das schon, ich bin nie neutral. Niemand ist jemals neutral. Aber auch da kann ich die Entscheidung nicht treffen, das werde ich auch nicht, und auch werde ich nicht sagen, "das sollst du nicht, das darfst du nicht". Ich würde fragen, warum die Person ringt. Was sind die Probleme und Sorgen dahinter. Welche Möglichkeiten gibt es?

Am Ende des Gesprächs sagt Schwester Gmoser: "Wenn Sie Lust haben, dann melden Sie sich, wir können immer Leute gebrauchen." Ein verlockendes, gleichzeitig risikobehaftetes Angebot.

Nebenan in der Kapelle hat jemand "Gütiger Herr, segne alle meine Freunde mit Frieden und Freude. Ich danke Dir aus ganzem Herzen" in das Register geschrieben.

Alle Geräusche der Stadt kommen wieder, sobald sich die hölzerne Tür öffnet. Als würde man zurück in die echte Welt treten. Weg von einer Insel der Ruhe. (Thorben Pollerhof, 25.07.2021)