Letzten Endes hing Ludwig Kriedels Leben am Gartenschlauch. Als die Flut kam, wollte er noch schnell ein paar Elektrowerkzeuge aus seiner Maschinenhalle bergen. Doch dann schoss das Wasser so schnell heran, dass Kriedels Rettung eben dieser Gartenschlauch war, den seine Frau an die Balkonbrüstung band.

Viele zerstörte Häuser, viele ruinierte Existenzen im Ahrtal.
Cornelie Barthelme

Eine Woche später steht Kriedel vor seinem Haus. Es sieht von vorne fast unversehrt aus – von hinten nicht, und auch der Halle daneben fehlt eine Seitenwand. Kriedels Zuhause ist ein Trümmerfeld. Aber er lebt. Und seine Frau auch.

Kriedel erzählt, wie sie am Dach saßen, "zwölf Stunden lang". Er dreht sich einmal im Kreis, deutet auf die Nachbarhäuser und zählt auf: "Die da saßen auf dem Dach. Die waren nicht da. Die saßen zu viert auf dem Dach, die Älteste 96 Jahre alt." Für die Überlebenden kam ein Hubschrauber – aber erst nach einem halben Tag. "Und die da vorn, die sind nicht mehr rausgekommen. Da sind jetzt drei Menschen tot." "Da vorn" sind im Obergeschoß die Jalousien heruntergelassen.

Wasser bis zur zweiten Etage

Die Ahr reichte in Kriedels Straße bis über die Fenster der ersten Etage hinauf, man erkennt die Dreckspuren. Kriedel erzählt, dass er auch die Hunde noch mit nach oben nehmen konnte, nur die Katze fand er auf die Schnelle nicht. Erst am nächsten Tag, auf der allerhöchsten Hallenstrebe. Lebend.

Kriedel erzählt ohne Punkt und ohne Komma. Dass eine Metallhalle auf sein Haus zugetrieben sei und dass er gedacht habe: "Jetzt ist es vorbei." Und dass überhaupt alles gewesen sei "wie im amerikanischen Katastrophenfilm, eins zu eins". Dass die privaten Helfer "vom ersten Tag an" ihr Möglichstes täten; Bagger aus Hessen, Notstromaggregate "irgendwo aus dem Ruhrpott".

Die institutionelle Unterstützung aber habe eine Woche gebraucht, schildert Kriedel und meint, dass die Hilfsgelder niemals ausreichen werden. "Was sollen wir mit 50 Millionen? Da kriegste vielleicht das Eck hier damit gemacht. Mehr nicht." "Das Eck" heißt Marienthal, von den steil aufragenden Weinbergen aus wirkt es eine Woche nach der Flut wie das reine Idyll – man darf bloß nicht näher heran.

Psychologische Hilfe per Hubschrauber

Genau das ist die Aufgabe von Markus Hipp: nahe ran und dann einfach da sein. Während Kriedel redet, landet neben seinem Haus laut knatternd ein Hubschrauber. Bundespolizei. Hipp und seine Kollegin Heike Sebald steigen aus, sie sind Fachleute für Krisenintervention des Bayerischen Roten Kreuzes. Seit Montag sind sie im Einsatz, jeden Tag ein anderes Dorf. "Also, so sensibel sind wir nicht", sagt Kriedel, als er begreift, wofür die zwei hier sind.

Hipp spricht leise und sanft. Aber eigentlich ist er fürs Zuhören da, für "psychosoziale Notfallversorgung". Diese Form von Not gibt es im Katastrophengebiet jede Menge. Könnte man sie sehen, würde sie spielend die kilometerlangen Massen aus Schlamm, Schutt und Müll vom Küchenstuhl bis zum Auto toppen, die sich an der Ahr entlang von Marienthal bis Dernau türmen. Wäre sie zu riechen, würde diese Not mehr Übelkeit verursachen als der leicht süßliche Gestank, den die Hitze im Zusammenspiel mit dem Müll und der kaputten Kanalisation übers Dorf legt.

Am Freitag läuten in ganz Deutschland um 18.00 die Kirchenglocken für die Flutopfer – auch in Dernau.
Cornelie Barthelme

Bis zur Flut verstanden sich die 1700 Einwohner des Dorfes als "Weinkulturort". "Aber jetzt", sagt ein Dernauer, "sieht es hier aus wie im Krieg." Er schaufelt Schlamm weg. Und redet, das tun viele. Die Worte gehen ihnen erst in den Arbeitspausen aus. Dann sitzen sie und bekommen ein anderes Gesicht.

"Trance" nennt Anna-Lena das. Sie räumt bei Tante und Onkel Dreck und Schlick aus dem Restaurant-Hotel Kölner Hof, gleich an der Ahr. Die Flut hat sich zehn Häuserreihen weit durchs Dorf gewälzt. "Die meisten Leute", sagt Anna-Lena, "stehen irgendwie neben sich."

Tote, Diebe, Plünderer

Dabei wissen viele gar nichts Genaueres von den Toten, die in der Dernauer Kirche lagen. Irgendwo mussten die Ertrunkenen und Angeschwemmten ja hin. Die größere "Totensammelstelle" ist aber ein Flugplatz, 20 Kilometer entfernt. Auch dort leiste man psychozoziale Nothilfe, erklärt Hipp. In Dernau mussten sich die Menschen ein paar Tage lang selbst um die Toten kümmern, nicht alle hätten das verkraftet.

Mittlerweile ist die Kirche versperrt, wegen Dieben und Plünderern. Nur wenige sehen das so gelassen wie Kriedels Ehefrau. Die sagt, man habe "ja ohnehin viel zu viel". Und schiebt trocken nach: "Das ist das Gute an der Flut."

Hipp ist weitergegangen, am Müllgebirge entlang durchs Dorf. "Gute Gespräche", ist am Abend seine Bilanz. "Guter Zusammenhalt, besonders junge Leute hängen sich selbstlos voll rein."

Keine Idylle mehr

Das gilt auch für den Ehrenamtler Hipp, der schon zu Mittag erschöpft wirkt. Zwei Tage sei die normale Einsatzdauer, für ihn und seine Kollegin sind es jetzt schon vier. Zum Flugplatz, so erzählt er, kämen auch Schaulustige und "Querdenker", machten Fotos und Videos und verdrehten dann im Internet alle Fakten. "Das belastet uns."Im Vergleich zu Hipp ist Kriedel geradezu heiter, kommt wieder auf den Gartenschlauch zu sprechen, dreht sich wieder im Kreis: "Hier war alles idyllisch – und jetzt, jetzt ist alles am Arsch." (Cornelie Barthelme, 24.7.2021)