Wien – Drei ORF-Manager haben sich als Bewerber für die ORF-Generaldirektion deklariert: Alexander Wrabetz, General seit 2007, ORF-1-Managerin Lisa Totzauer und nun am Donnerstag Vize-Finanzdirektor Roland Weißmann. Die größten Chancen werden Roland Weißmann (53) eingeräumt, der Vize-Finanzdirektor und ORF.at-Manager dürfte auf Unterstützung der türkisen Mehrheit im ORF-Stiftungsrat bauen können.

Dem ÖVP-Regierungspartner, den Grünen, sollen zwei von vier ORF-Direktorenjobs zugesichert sein. Die insgesamt vier Direktoren und neun Landesdirektoren ab 2022 schlägt der nächste General nach seiner Wahl am 10. August vor, der Stiftungsrat bestellt sie im September. Kolportiert werden als mögliche Kandidaten etwa Ö3-Chef Georg Spatt für eine TV- oder Programmdirektion und ORF-3-Geschäftsführerin Eva Schindlauer für die Finanzen.

Ob Roland Weißmann, wenn er General wird, die auch bürgerlich eingeordnete Gegenkandidatin Lisa Totzauer (50) ins Team holt, ist eine offene Frage. Totzauer äußert sich im STANDARD-Interview nicht über einen möglichen Plan B und ob sie sich eine Funktion im Direktorium vorstellen kann.

Totzauer: Infodirektor statt Infogeneral

Als Generaldirektorin des ORF würde sie wieder eine eigene Direktion für Information einrichten, sagt sie. 2011 hat ORF-Chef Alexander Wrabetz Infodirektor Elmar Oberhauser vom Stiftungsrat abwählen lassen, als sich dieser erst gegen Totzauer als TV-Magazinchefin und dann gegen Fritz Dittlbacher als TV-Chefredakteur querlegte; Oberhauser lehnte sie als ÖVP- und ihn als SPÖ-Wunsch ab. Seither ressortiert die Information zu ORF-General Wrabetz, 2021 der dritte Bewerber.

Totzauer vermisst hier ein "Vier-Augen-Prinzip", das sie mit einem eigenen Infodirektor einführen würde. "Ich halte es für extrem wichtig, dieses Mehraugenprinzip auch in den Redaktionen und in einem neu konzipierten Newsroom konsequent weiterzuziehen. Ich traue unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu, dieses gemeinschaftliche Prinzip mit Leben zu erfüllen. Also hin zu einem partizipativen Miteinander und weg vom Schreckgespenst eines zentralen Chefredakteurs, der alles entscheidet." Den plant, soweit erkennbar, kein Bewerber.

Konzepte bis Mittwoch

Spätestens kommenden Mittwoch müssen sie die Konzepte abgeben, was sie in den fünf Jahren ab 2022 mit Österreichs weitaus größtem Medienkonzern vorhaben. Bisherige Aussagen der Bewerber und der Bewerberin deuten nicht darauf hin, dass sich die Grundlinien ihrer Konzepte unterscheiden.

Klar ist die Richtung vom Rundfunk zur Streamingplattform mit mehr Social-Media-Fokus. Keiner der drei will sich ganz rasch von linearen Kanälen verabschieden – denn dort, insbesondere in ORF 1 und 2, aber auch Ö3, nimmt der ORF den größten Teil seiner rund 200 Werbemillionen pro Jahr ein.

ORF 3 schärfer, FM4 jünger

Totzauer sieht im STANDARD-Interview zu große Überschneidungen von ORF 2 und ORF 3, der Spartensender solle sich "stärker auf den gesetzlichen Auftrag Kultur und Information konzentrieren". Wiederholungen von Serien seien "wenig zielführend und verwirren unser Publikum".

FM4 wiederum sei "nicht mehr in der vorgesehenen Altersstruktur", sollte also jünger werden und weniger "spitz" formatiert. "Wir müssen die Altersstruktur verbreitern, ohne Stammhörer und -hörerinnen zu verlieren."

Lisa Totzauer ist seit 2018 Channel-Managerin von ORF 1, sie sollte und wollte den Sender österreichischer machen mit Fokus auf jüngere Zielgruppen und setzte stark auf Infoformate. Der Sender verlor, bis vor wenigen Monaten, weiter und deutlich Marktanteile auch bei jüngeren Zielgruppen. Was hat Totzauer bei ORF 1 gelernt? "Nachdem ich in den vergangenen Jahren mit ORF 1 vor der Herausforderung stand, in der am wenigsten vorhandenen und am meisten umkämpften Zielgruppe des Medienmarktes zu reüssieren, weiß ich jetzt noch besser, welche Herausforderungen den gesamten ORF für die nächsten Jahre erwarten."

"Unabhängigkeit ist ein Selbstverständnis": Lisa Totzauer im Interview

Lisa Totzauer (50), Journalistin und seit 2018 Channel-Managerin von ORF 1, hat sich um die Funktion des ORF-Generals beworben.
Foto: Irene Kerrhaler-Moser

STANDARD: Wie sieht der ORF nach fünf Jahren ORF-Generalin Lisa Totzauer aus?

Totzauer: Der ORF wird viel dynamischer sein, viel näher an seinem Publikum, mit seinem Publikum interagieren, unser ORF wird bunter sein, agiler, flexibler und letztlich auch freudvoller und leidenschaftlicher in der Produktion.

STANDARD: Unabhängig habe ich jetzt nicht gehört.

Totzauer: Unabhängigkeit ist ein Selbstverständnis, ein Grundpfeiler, der letztlich unsere Glaubwürdigkeit ausmacht. Glaubwürdigkeit und Vertrauen sind die härteste Währung im Mediengeschäft, aber auch die am schnellsten verspielbare Eigenschaft. Egal, was wir heute als Medienhäuser tun: Wenn wir nicht glaubwürdig sind, werden wir nicht erfolgreich sein. Wenn uns das Publikum nicht glaubt, würdigt es uns keines Blickes oder Clicks mehr und ist weg.

"Weg vom Schreckgespenst eines zentralen Chefredakteurs, der alles entscheidet."

STANDARD: Was kann man zur Sicherung dieser Unabhängigkeit tun?

Totzauer: Es ist unsere Aufgabe, Strukturen und Rahmenbedingungen zu schaffen, die diese Unabhängigkeit tagein, tagaus unterstützen. Es wird meine Aufgabe als Generaldirektorin sein, unseren Redaktionen diese journalistischen Freiräume zu schaffen und zu behalten.

STANDARD: Zum Beispiel?

Totzauer: Ich halte es für richtig und wichtig, dass die Information wieder eine eigene ORF-Direktion wird und damit auch strukturell den Stellenwert bekommt, der ihr zusteht. Programm ist unser öffentlich-rechtlicher Kernauftrag, und das müssen wir auch sichtbar machen. Ein verantwortlicher Informationsdirektor, eine Informationsdirektorin steht gemeinsam mit dem Generaldirektor am Beginn eines Vieraugenprinzips, das sich auf den Ebenen darunter fortsetzt.

STANDARD: Heute ist der ORF-Generaldirektor zugleich zuständig für die Information.

Totzauer: Ich halte es für extrem wichtig, dieses Mehraugenprinzip auch in den Redaktionen und in einem neu konzipierten Newsroom konsequent weiterzuziehen. Ich traue unsere MitarbeiterInnen zu, dieses gemeinschaftliche Prinzip mit Leben zu erfüllen. Also hin zu einem partizipativen Miteinander und weg vom Schreckgespenst eines zentralen Chefredakteurs, der alles entscheidet.

STANDARD: Den auch die Mitbewerber ausgeschlossen haben.

Totzauer: Ich habe schon viele Strukturen in der Information gesehen. Die größte Meinungsvielfalt und Unabhängigkeit habe ich in der Struktur von Generalintendant Gerhard Zeiler mit echt gelebten, großen und starken Sendungsteams erlebt, die in sich wieder verschiedene Redaktionen waren. Will ich Meinungsvielfalt, brauche ich unterschiedliche Redaktionen und dort einen lebendigen Meinungsaustausch. Um in diesen produktiven Austausch zu kommen, braucht auch Ressourcen, Verständnis und Raum.

STANDARD: Gibt es da heute einen Mangel?

Totzauer: Es gibt derzeit kleine, oft zu wenig fokussierte Sendungsteams, ich halte sie für zu klein und zu wenig unterschiedlich. Daher fehlt der Raum und die Zeit für strukturierte Innovation und vertiefte Recherche. Wir müssen den Widerspruch fördern, damit unser Programm vielfältiger und ausgewogener wird. Und dafür brauchen wir größere Sendungsteams.

STANDARD: Gehen wir noch einmal zurück zum ORF in fünf Jahren, das war sehr allgemein und ein bisschen Wahlprogramm. Geht es ein bisschen konkreter? Der ORF hat vier Fernsehkanäle, zwölf Radioprogramme, eine TVthek, ist noch sehr stark Rundfunk. Wie wird das 2026 aussehen nach fünf Jahren Generalin Totzauer?

Totzauer: Ich denke Programm grundsätzlich immer vom Inhalt weg und hin zu unserem Publikum. Wir sind leider oft darauf konditioniert, in technischen Rahmenbedingungen zu denken. Aber das Wichtigste, das was uns ausmacht und warum es uns gibt, ist der Inhalt. Wir müssen uns fragen: Welche Inhalte erwarten die NutzerInnen, unabhängig vom Ausspielkanal? Nächster Schritt: Welche Inhalte halten wir für richtig und wichtig? Erst dann stellt sich die Frage der technischen Umsetzung, wie und wo schaffen wir es, diesen Inhalt zum Leben zu erwecken? ProgrammmacherInnen und JournalistInnen dürfen wir nicht in die Zwangsjacke technischer, struktureller, vielleicht auch räumlicher Rahmenbedingungen stecken.

STANDARD: Geht das konkreter?

Totzauer: Bei den Olympischen Spielen erwartet man zum Beispiel vom Fernsehen: Ich will da dabei sein, die Wettkämpfe und Rennen sehen. Was ist die Erwartungshaltung im Social-Media-Bereich? Dinge zu erleben, die ich so nicht kenne. Dort will ich zum Beispiel verstehen: Wie geht das beim Fechten, dass das Lamperl leuchtet? Und im klassischen Onlinebereich will ich Ergebnisse sehen, alles auf einen Blick: Die hat gewonnen, der hat schon wieder verloren, eh klar, Österreich wie immer Vierter. Das ist ein Inhalt auf unterschiedlichen Ausspielkanälen mit unterschiedlichen Erwartungen. Es hat keinen Sinn, ohne inhaltliches Konzept und Zielgruppenanalyse eine On-Demand-Plattform zu bauen. Die österreichische Fußballnationalmannschaft geht ja auch nicht ohne Spielplan aufs Feld.

STANDARD: Die bisher bekannte Visualisierung des Players scheint mir schon darauf hinzudeuten, was man da vorhat.

Totzauer: Ich schaue in erster Linie auf Inhalte und denke an unser Publikum. Bis jetzt kenne ich nur ein schön gebautes Mock-up, das können wir zwei heute wahrscheinlich am Reißbrett auch machen.

STANDARD: Was braucht der ORF hier also aus Ihrer Sicht?

Totzauer: Wir brauchen eine On-Demand-Plattform, das ist unser Publikum schon länger am Medienmarkt gewohnt. Selbstverständlich werden wir dort unsere linearen Formate anbieten, spezielle Formate für diese On-Demand-Plattform konzipieren und gestalten. Und natürlich gehört auf diese Plattform die Möglichkeit eines Live-Angebots, um im Bedarfsfall schnell Breaking News anbieten zu können. Da sehe ich auch die ganz große Chance für den multimedialen Newsroom: Wenn wir es schaffen, unsere "ZiB"-Formate eng mit dem On-Demand-Angebot der Liveplattform zu verzahnen, dann können wir so schnell reagieren, wie es unser Publikum schon gewohnt ist.

"Nicht als technische Zwangsjacke."

STANDARD: Das scheint geplant zu sein. Plus Social Media.

Totzauer: Neben On Demand und Live ist Social Media unsere dritte digitale Säule. Das ist der aktuell herausforderndste Bereich, denn er verändert sich so atemberaubend schnell. Kaum haben wir gelernt, wie wir eine Geschichte auf Instagram erzählen, kommt schon das nächste und das übernächste Social-Media-Angebot. Hier stellt sich die Frage: Wie schaffen wir eine derart flexible Struktur, die solche Trends erkennt und auch gleich in konkrete Angebote umsetzt? Welche Erzählformen sind dort gefragt? Was ist die Erwartungen der Nutzerinnen, die dort unterwegs sind? Grundsätzlich ist eines für mich klar: Technische, strukturelle oder räumliche Umgebung sind nie Selbstzweck, sondern immer nur Werkzeug und Hilfe für JournalistInnen und ProgrammmacherInnen.

STANDARD: Aber haben Sie nicht gerade gesagt, dass man auf die technischen Gegebenheiten eines Mediums Rücksicht nehmen muss?

Totzauer: Inhaltlich ja, aber nicht als technische Zwangsjacke. Wir sind oft geblendet von der Frage: Wie kriege ich diesen Inhalt in jenes Umfeld, ohne uns vorher zu überlegen: Wie funktionieren Geschichten in diesem Umfeld, wer ist dort überhaupt unterwegs und warum? Diese Frage stellen wir uns oft erst am Schluss, sie gehört aber an den Anfang unserer Überlegungen. Zuerst Programm, dann technische Umsetzung.

STANDARD: Wie wird der ORF nach fünf Jahren Totzauer aussehen: Wird es die vier TV-Kanäle noch geben, wird es sie noch brauchen? Das werden Sie womöglich im Hearing vor der Generalswahl auch gefragt werden. Wird es die Radiokanäle noch brauchen, FM4 zum Beispiel als lineares Radioprogramm? Wird es ORF 1, ORF Sport Plus, vielleicht auch ORF 3 in der Form noch brauchen?

Totzauer: In fünf Jahren werden wir unsere klassischen Ausspielkanäle sicher noch haben und brauchen, nicht nur, aber auch wegen des Werbemarktes. Fakt ist, dass die Werbeeinnahmen im klassischen Bereich noch länger deutlich höher als im Digitalbereich sein werden. Gleichzeitig erkennen wir aber auch, dass der Digitalbereich der Wachstumsmarkt ist, in dem wir noch einiges aufzuholen haben.

STANDARD: Also der ORF kann hier höhere Werbeeinnahmen erzielen.

Totzauer: Wenn wir dieser Doppelstrategie folgen, ja. Wir machen das ja schon jetzt bei ORF 1, wo das Zusammenspiel mit Social Media eine immer wichtigere Rolle spielt. Bei ORF 2 wird dieses bei ORF 1 erprobte Zusammenspiel relevanter. Die zu großen Überschneidungen in der Publikumsstruktur zwischen ORF 2 und ORF 3 sind wegen der Doppelversorgung einer ähnlichen Zielgruppe natürlich auch für die Werbung echtes Thema, da werden wir in der Flotte nachschärfen müssen.

STANDARD: Wie nachschärfen?

Totzauer: ORF 3 soll sich stärker auf den gesetzlichen Auftrag Kultur und Information konzentrieren, den es auch im Sendertitel führt. Zweitabspielungen fiktionaler Inhalte erscheinen hier weniger zielführend und verwirren unser Publikum.

STANDARD: Und ORF Sport Plus?

Totzauer: Diesen Spartensender müssen wir viel näher an die digitale Welt heranführen, on demand und live bei größeren Sportevents. Denn insbesondere das sportaffine Publikum informiert sich schon lange nicht mehr nur linear, sondern digital und social.

STANDARD: Wie werden die ORF-Radios in fünf Jahren aussehen?

Totzauer: Wir müssen FM4 besser positionieren, denn es ist nicht mehr in der vorgesehenen Altersstruktur.

STANDARD: Es sollte jünger sein?

Totzauer: Ja. Und wir sehen, es ist sehr "spitz" formatiert. Da stellt sich, so pragmatisch es klingt, schon das Preis-Leistungs-Verhältnis. Andererseits hat FM4 eine starke Marke in der Kernzielgruppe, eine treue Anhängerschaft. Wir müssen also die Altersstruktur verbreitern, ohne die StammhörerInnen zu verlieren.

STANDARD: Braucht man alle Radiosender noch linear oder sind manche auf Sicht Streamingangebote?

Totzauer: Natürlich stellt sich die Frage: Was sollen wir noch im klassischen Broadcast anbieten und was zusätzlich oder überhaupt nur noch digital? Diese Übersetzung ins Digitale müssen wir jedenfalls schon parallel anbieten. In den nächsten fünf Jahren müssen klassisches Broadcasting und digitales Angebot nach und nach auf gleiche Augenhöhe kommen. Im Radiobereich geht es also darum, bewährte Marken über die nächste Zeit viel stärker im Digitalangebot zu verankern.

"Ich habe von Beginn an gesagt, dass solche gravierenden Veränderungen auch ihre Zeit brauchen."

STANDARD: Wir haben in den vergangenen Jahren schon viel darüber gesprochen, wie schwierig es ist, lineares Fernsehen für junge Menschen zu machen, ORF 1 hat das gezeigt. Vor der großen Herausforderung stehen nun mehr und mehr ORF-Kanäle – Ö3, FM4, auf Sicht ORF 2. Was haben Sie da aus den drei Jahren ORF 1 gelernt?

Totzauer: Nachdem ich in den vergangenen Jahren mit ORF 1 vor der Herausforderung stand, in der am wenigsten vorhandenen und am meisten umkämpften Zielgruppe des Medienmarktes zu reüssieren, weiß ich jetzt noch besser, welche Herausforderungen den gesamten ORF für die nächsten Jahre erwarten.

STANDARD: Zunächst haben Sie bei ORF 1 stark auf österreichische Info-Inhalte gesetzt. Inzwischen setzt der Sender stark auf Show und Unterhaltung, Premium-Livesport und Fiction. Warum der – laut ORF-Chef Wrabetz von ihm forcierte – Shift zu anderen Schwerpunkten?

Totzauer: Ich habe von Beginn an gesagt, dass solche gravierenden Veränderungen auch ihre Zeit brauchen. Wir haben erfolgreich mit der Information auf ORF 1 begonnen und uns dann der Fiktion gewidmet, um den Sender im Programm österreichischer zu machen. ORF 1 zeigt, dass die Vernetzung mit Social Media sinnvoll und zielführend für unser Publikum ist. Dafür eignen sich Liveshows ausgezeichnet, und "Starmania" hat da genau hineingepasst. Wir haben es geschafft, junges Publikum über die Social Media zu einer linearen Liveshow zu bringen. Vor allem bei den ganz Jungen war "Starmania" sehr erfolgreich. In ganz Europa gibt es keine Show mit einem so hohen Marktanteil bei den Zwölf- bis 29-Jährigen, darum beneidet man uns im Ausland. Also sind Liveshows weiter ein Thema. Corona hat sehr deutlich das Bedürfnis nach Entspannung, Eskapismus, Zurücklehnen bei qualitätsvoller non-fiktionaler Unterhaltung, nach Kabarett und Quiz aus Österreich gezeigt. Das bleibt die Hauptstoßrichtung für ORF 1.

STANDARD: Die letzten Wochen trug Livesport die Quoten bei ORF 1 – die vorerst letzte Fußballeuropameisterschaft im ORF, 2024 und 2028 hat Servus TV die Rechte.

Totzauer: Wie die Live-Shows ist Live.Sport ist eine der letzten großen Möglichkeiten, alle um das viel zitierte "Lagerfeuer" Fernsehen zu scharen. Darum werden wir uns weiter bemühen, allerdings sind Sportevents nicht nur für uns massive Treiber im linearen Bereich und daher zunehmend kostenintensiv.

STANDARD: Und teuer ist auch selbst produzierte Fiction, der dritte Bereich mit Aussicht, auf den Sie nach eigenen Angaben als Generaldirektorin setzen würden.

Totzauer: Es geht um österreichischen Film und österreichische Serien, die unser Publikum liebt und die für uns ein "Must-have" sind. Heimische Fiction ist natürlich auch eine kostenintensive Sache, aber auch eine Herzensangelegenheit, die wir uns verstärkt leisten wollen.

"Im internationalen Markt werden wir kaum noch Film und Serie kaufen können, selbst wenn wir wollten."

STANDARD: Aber hat nicht ORF 1 gerade die Budgets dafür in den vergangenen Jahren gekürzt?

Totzauer: Alle Programmbudgets wurden gekürzt. Aber bei ORF 1 wirkt sich das immer am dramatischsten aus, denn gekürzt wird das Gesamtbudget, und bei ORF 1 macht der Sport eine riesige Summe aus, auch wenn das Angebot immer kleiner wird. Wir teilen uns beispielsweise die Rechte in der Formel 1 nun mit Servus TV, haben also halb so viele Übertragungen, aber durch die Preissteigerungen bleibt die Gesamtkosten gleich. Wenn ich im Sport nicht sparen kann, muss ich es in allen anderen Bereichen umso mehr tun. Damit bleibt immer weniger Geld für Fiction aus Österreich. Das ist eine ganz gefährliche Schere.

STANDARD: Nämlich welche?

Totzauer: Im internationalen Markt werden wir kaum noch Film und Serie kaufen können, selbst wenn wir wollten. Disney+ und andere Produzenten behalten Produktionen lieber auf der eigenen Streamingplattform, um sie selbst zu monetarisieren. Amazon hat das Filmstudio MGM gekauft und zieht diese Ware vom Markt ab. Für Free TV bekommt man nach drei, vier Jahren nur noch das, was im Mediensupermarkt in der "Wühlkiste" liegt. Auch aus diesem Grund müssen wir verstärkt in österreichische Produktionen gehen, was für einen öffentlich-rechtlichen Sender auch vollkommen logisch ist. Denn was macht uns für unser Publikum unverwechselbar? Österreichische Angebote, in denen wir uns wiederfinden, egal auf welchem Ausspielkanal wir sie finden.

STANDARD: Wie geht sich all das wirtschaftlich aus? Woher kommt das Geld? Das Gesamtbudget wird mit Eigenproduktion, Sportrechten nicht einfacher.

Totzauer: Das Gesamtbudget wird definitiv nicht einfacher zu verteilen sein. Wir müssen es daher umgewichten und mehr Geld ins Programm bringen.

STANDARD: Woher und wohin?

Totzauer: Im ORF, ohne Tochterunternehmen betrachtet, gehen etwa 20 Prozent ins Programm. Bei der BBC sind das 35 Prozent. Und die BBC hat das Ziel, diesen Anteil Jahr für Jahr zu steigern.

STANDARD: Nur 20 Prozent der einen Milliarde Euro Jahresbudget gehen ins Programm?

Totzauer: Ins Fernsehprogramm.

STANDARD: Wo ist der Rest? Sind da Personalkosten eingerechnet?

Totzauer: Natürlich muss man die mit einbeziehen. Darüber gibt es unterschiedliche Aufschlüsselungen – rechnet man Technik dazu oder nicht?

STANDARD: Was tut eine Generaldirektorin Totzauer da?

Totzauer: Wir müssen im Haus über Jahrzehnte gewachsene Strukturen überdenken und optimieren, auch in den technischen Lösungen ist noch einiges zu holen. Effizientere Strukturen werden natürlich auch Investitionen in technische Systeme erfordern, die miteinander reibungslos kommunizieren. Das kostet anfangs Geld, bringt aber in den Folgejahren deutliche Einsparungen. Damit können wir dann mehr Geld ins Programm bringen.

"Ich habe gelernt, dass Dinge oft länger brauchen, als man sich selbst erhofft."

STANDARD: Sie haben vorhin von schmerzhaftem Lernen bei ORF 1 gesprochen. Was waren diese Schmerzen? Waren das die – auch in der jüngeren Zielgruppe – eingeknickten Marktanteile?

Totzauer: Ich habe gelernt, dass Dinge oft länger brauchen, als man sich selbst erhofft. Wir leben in einer volatilen, sich ständig verändernden Medienwelt und erwarten uns trotzdem, dass alles immer sofort so funktioniert wie gewohnt. Experimente und Innovationen für morgen werden oft mit den Erwartungshaltungen von gestern belastet. Ich habe gelernt, ruhiger vorzugehen und mich selbst nicht unter solchen Druck zu setzen.

STANDARD: Der kam – soweit von außen zu erkennen – nicht nur von Ihnen.

Totzauer: Das habe ich auch gelernt: Selbst wenn sich alle Beteiligten ausmachen, wir bleiben jetzt ruhig, ja, das wird jetzt eineinhalb Jahre dauern, und alle sind dabei, dann ist dieses einhellige Commitment drei Wochen später nicht mehr vorhanden. Wenn wir von Change-Management reden, von Veränderungen und davon, in die Zukunft zu gehen, dann brauchen wir dafür viel Mut und Kraft. Das kann ohne Frage sehr aufreibend sein. Nur: Wenn wir diese Kraft nicht aufbringen, werden wir diese Zukunft auch nicht erleben. Wir sagen in Österreich gerne: Das haben wir immer schon so gemacht. In Schweden beispielsweise nimmt man das zum Ausgangspunkt, es einmal anders zu versuchen.

STANDARD: Haben Sie Fehler gemacht?

Totzauer: Natürlich. Es ist kein Fehler, einen zu machen. Es ist ein Fehler, nichts zu machen oder nichts daraus zu lernen.

"Ich bin manchmal zu ungeduldig, gehe zu schnell voran und bemerke dann, dass ich auf diesem Weg nicht ausreichend kommuniziert habe."

STANDARD: Welche?

Totzauer: Ich bin manchmal zu ungeduldig, gehe zu schnell voran und bemerke dann, dass ich auf diesem Weg nicht ausreichend kommuniziert habe. Aus diesem Fehler habe ich sehr viel gelernt. Wenn man nicht erklärt, warum man etwas tut, dann frustriert das die anderen, stößt sie vor den Kopf und nimmt sie nicht auf den gemeinsamen Weg mit. Ich habe auch gelernt, stärker zuzuhören, Menschen um mich zu haben, die den kritischen Diskurs nicht scheuen, den Tunnelblick zu vermeiden. Von produktiven Diskursen kann ich sehr viel mitnehmen.

STANDARD: Eine vielleicht gewagte Assoziation, aber ein bisschen klingt das nach Ihrer Generalsbewerbung. Die hat offenbar einige vor den Kopf gestoßen, irritiert.

Totzauer: Ich habe den Willen, den ORF der Zukunft zu gestalten, ein spannendes digitales, zukunftssicheres Unternehmen mit unabhängiger Information zu entwickeln, das den Weg ins Morgen meistert. Das schreibe ich in einem Konzept und bewerbe mich für die führende Funktion im ORF, das alles erscheint mir schlüssig. Wenn sich dadurch Menschen vor den Kopf gestoßen fühlen, dann tut mir das leid. Meine Erwartung ist, dass sich möglichst viele Bewerberinnen und Bewerber mit spannenden Ideen und Konzepten bewerben und der beste Kopf gewinnt.

STANDARD: Haben Sie ein Gefühl, dass das auf Interesse stößt und ankommt, gesehen und gehört wird, in der derzeitigen Entscheidungsstruktur über die nächste ORF-Führung?

Totzauer: Der ORF steht vor einem der wichtigsten Entscheidungsprozess seiner Existenz: Wie schaffen wir den Sprung auf den längst dahinbrausenden digitalen Zug? Wie schaut öffentlich-rechtlicher Rundfunk von morgen aus? Ich bin überzeugt, dass sich die dafür verantwortlichen Stiftungsrätinnen und Stiftungsräte auch schon länger darüber den Kopf zerbrechen. Ich sehe in unseren Gremien lauter interessierte, engagierte und lösungsorientierte ExpertInnen, bei denen mein Konzept und meine Überlegungen für den ORF von morgen interessiert wahrgenommen werden.

STANDARD: Und wird sachlich danach entschieden?

Totzauer: Davon gehe ich aus. Denn auf welcher anderen Basis sollte die Entscheidung fallen

STANDARD: Nun scheint es eine Stallorder in der Mehrheitsfraktion der ÖVP-nahen Stiftungsräte für einen anderen Kandidaten zu geben, für Roland Weißmann. Wie gehen Sie damit um?

Totzauer: Wir sind hier nicht in Spielberg bei einem Formel-1-Rennen, sondern am Küniglberg bei der Wahl der nächsten Generaldirektorin. Eine "Stallorder" würde zudem den unabhängigen Stiftungsrat diskreditieren, und das kann und will ich mir nicht vorstellen.

STANDARD: Sie sind gewählt, Sie treten Ihr Amt als ORF-Generaldirektorin und damit Alleingeschäftsführerin am 1. Jänner 2022 an. Was sind die ersten drei Schritte?

Totzauer: Erstens zügig Prozesse für ein sinnvolles und wirksames Change-Management professionell aufzusetzen, um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mitzunehmen, um freudvoll miteinander Programm zu gestalten. Was wollen wir behalten und wovon wollen wir uns trennen? Zweitens würde ich eine Innovationsstruktur aufsetzen. Es gibt im ORF so viele kreative Menschen mit derart großer Begeisterung, diese Energie müssen wir für uns wirksam werden lassen. Wir müssen ihnen eine Struktur bieten, wie wir diesen Schatz gemeinsam heben, mit dem Mut zum Experiment.

STANDARD: Schritt drei?

Totzauer: Drittens werden wir die digitalen Möglichkeiten in allen Landesstudios auszuweiten. Das ist ein noch nicht so stark besetzter Wachstumsmarkt.

STANDARD: Hat Lisa Totzauer einen Plan B, wenn es doch nichts mit der ORF-Generaldirektion wird?

Totzauer: Auf Basis des überwältigenden und vielfältigen Zuspruchs, den ich nach der Ankündigung meiner Bewerbung bekommen habe, gehe ich davon aus, dass ich mich mit dieser Frage nicht allzu intensiv auseinandersetzen muss. Das überlege ich mir, wenn sich die Frage stellt. (Harald Fidler, 23.7.2021)