Schnelle Szenen im Spiegelkabinett: ein Marathon des Auftretens und Wiederverschwindens.

Foto: Herve Deroo

Von Anfang an kommen Äpfel zum Vorschein. Von den Tänzerinnen respektive Performern werden sie nur angebissen, nicht gegessen. In Abständen kehrt dieses Motiv zurück, bis die Anbeißer irgendwann ihr Abgebissenes in hohem Bogen auf die Bühne spucken.

Das ist eines von zahllosen Bildern, aus denen die französische Choreografin Maguy Marin ihr heiß diskutiertes Werk "Umwelt" zusammengesetzt hat, das sein Publikum gerade bei Impulstanz in einen Ausnahmezustand bringt. Nach anderen Tanzstücken setzt der Applaus meist früh ein. Am Ende von "Umwelt" jedoch herrscht erst einmal fassungslose Stille im Volkstheater, bevor das Klatschen einsetzt. Siebzig Minuten Hochspannung hinterlassen ihre Spuren.

Ohne je wirklich innhalten zu können, legen neun Männer und Frauen in einer Installation aus vier Reihen von in knappen Anständen nebeneinandergestellten Spiegeln einen Marathon des Auftretens und Wiederverschwindens hin. Getrieben werden sie sowohl von starkem Seitenwind, der an ihren Kleidern und Haaren zerrt, als auch von dem Tosen, das ein dünnes Seil in ständiger Bewegung über die Saiten dreier E-Gitarren verursacht.

Platzende Blasen

Wie Blasen auf einem brodelnden Brei platzen Bilder auf, die auf normales Leben anspielen: Pullis werden übergestreift, Pappkronen auf Köpfe gesetzt, Säcke auf Schultern getragen, zwei küssen sich, ein Baby wird hochgehalten. Zwei Männer in Handschellen, drei Touristen mit blauen Hütchen, eine Frau beißt herzhaft in ein gefülltes Baguette. Hochzeitskleider, Militärhelme, eine Rangelei. Mützen und Schals, üppige Hüte, jemand watscht einen anderen. Dazu unentwegt der Seil-auf-Saiten-Geräuschpegel.

Und wie kochender Brei zu spritzen beginnt, fangen die Performer an, allerlei Zeug auf den Bühnenboden zu schmeißen. Sie leeren Kübel mit Ziegelschutt aus. Hoch wirbelt der Wind roten Staub auf. Große Tierknochen folgen, auch Babys (also: Puppen) werden in den Dreck gekickt.

So sind wir in "Umwelt" als Umwelt füreinander: manische Normaltypen, wie sie im aktuellen Festival schon bei Guilherme Botelhos Stück "Sideways Rain" oder in Meg Stuarts "Cascade" zu sehen waren, bei Marin aber in einer heterogenen Generationenmischung aufscheinen. Die Künstlerin hat den deutschen Begriff "Umwelt" als Titel für ihr Stück gewählt, weil nicht nur unsere natürliche, sondern etwa auch unsere gesellschaftspsychologische Umgebung bezeichnet.

Destruktive Höchstleistung

Was wir einander gegenseitig antun, das fügen wir auch unseren Lebensräumen zu. Deswegen heizt uns der Klimawandel ein, brennen Wälder weg, schmelzen Polkappen, steigen Meeresspiegel. Als "Umwelt" 2004 Premiere hatte, war es noch wichtig, darüber zu streiten, ob in diesem Stück ausreichend Tanz vorkommt oder ob es gar "kulturpessimistisch" sei. Beide Debatten sind mittlerweile im Orkus für Diskursmüll verschwunden.

Heute ignorieren wir schon weniger, dass es ums Eingemachte geht. Und siehe da, schon packt uns dieses Meisterwerk der heute 70-jährigen Maguy Marin fester an. Es gibt nur wenige Werke der zeitgenössischen Choreografie, die ihrem Publikum eine vergleichbar packende Bilanz dieser unserer destruktiven Höchstleistungen vorführen. Und das ganz ohne Standpauke. Schließlich sitzen im Auditorium mündige Individuen, die selbst ihre Schlussfolgerungen ziehen können. (Helmut Ploebst, 23.7.2021)