Wolfgang Mückstein will Geimpfte, nicht Getestete. Deswegen müsse man im Herbst auch die Teststrategie überdenken.

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Eine Karikatur seiner selbst schmückt das Besprechungszimmer von Wolfgang Mückstein (Grüne): der Minister in Rambo-Montur, ausgerüstet mit einer gigantischen Spritze. So hätte es Mückstein wohl gerne – denn der Impffortschritt gestaltet sich derzeit schleppend. Gleichzeitig sieht der Arzt die Disziplin im Sinkflug: Immer mehr Menschen würden einander etwa wieder die Hände schütteln. Auch Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sieht man auf einer Sommertour auf Tuchfühlung mit den Menschen.

STANDARD: Darf man Ihnen die Hand schütteln?

Mückstein: Nein. Ich bin immer noch bei der Faust oder beim Ellenbogen. Aber da sieht man schon, wie sich das schnell wieder zurückentwickelt hat. Man gibt eben den Menschen wieder die Hand, in der Gastronomie wird mit einem Augenzwinkern da oder dort nicht kontrolliert. Das ist schon besorgniserregend, weil wir am Beginn der vierten Welle stehen.

STANDARD: Was unterscheidet die vierte Welle von den vorangegangenen?

Mückstein: Wir haben jetzt an die 50 Prozent vollimmunisiert. Aber wir haben eine wesentlich ansteckendere Variante. Es wird die Frage sein, wie rasch sich die Nichtgeimpften oder Einmalgeimpften anstecken. Wenn das über drei, vier, fünf Monate geht, dann mache ich mir wegen des Belags der Intensivstationen keine großen Sorgen. Wenn das innerhalb von fünf, sechs, sieben Wochen geht, dann wird das die Spitäler belasten.

STANDARD: Am Donnerstag gab es Lockerungen. Wird es wieder Verschärfungen brauchen?

Mückstein: Wir haben uns die Öffnungsschritte gemeinsam erarbeitet, wir müssen jetzt dafür Sorge tragen, dass wir mit relativ sanften Maßnahmen Zeit gewinnen. Für mich ist Masketragen auch nicht angenehm, aber was noch viel unangenehmer ist, ist ein Lockdown im September oder Oktober.

STANDARD: Ihre Prognosen für den Herbst hängen stark am Faktor Impfrate. War es ein Fehler, die Pandemie zum individuellen Problem zu erklären, wie es der Bundeskanzler gemacht hat?

Mückstein: Wir haben das gemeinsam in der Bundesregierung besprochen. Es wurden ja letzte Woche durchaus Maßnahmen im Einvernehmen gesetzt, die substanziell etwas ändern. Es geht jetzt darum, die Leute zum Impfen zu bringen. Das wird ja schon gut gemacht in den Bundesländern: Impfen auf dem Boot, Impfen vor Einkaufszentren. Impfen ohne Termin.

STANDARD: Haben Sie das Ziel Herdenimmunität aufgegeben?

Mückstein: Mit den Genesenen werden wir in etwa 65 bis 70 Prozent erreichen. Alles darüber ist schwierig, weil es immer Gruppen geben wird, die sich nicht impfen lassen können oder partout nicht wollen. Berufsgruppen, die im Spital oder im Pflegeheim arbeiten, sollen verpflichtet werden, geimpft zu sein. Wir haben ungefähr zehn bis 15 Prozent nichtgeimpfte Bewohnerinnen und Bewohner in Altersheimen und durchschnittlich nur 65 Prozent Durchimpfungsrate beim Personal.

STANDARD: So eine Impfpflicht wäre Ländersache. Soll eine bundeseinheitliche Lösung her?

Mückstein: Ich bin dafür, dass geimpft wird. Die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, bei Spitälern sind das oft die Länder, können das jetzt schon machen. Ich finde, sie sollen es auch.

STANDARD: Auch bei Lehr- und Kindergartenpersonal?

Mückstein: Das ist nicht mein Bereich, aber man muss vorsichtig sein: Wo beginnt man? Was ist mit Rettungsfahrern, mit Polizisten?

STANDARD: Also auch keine Impfpflicht für die Gesamtbevölkerung?

Mückstein: Ich bin gegen eine allgemeine Impfpflicht. Was ist die Konsequenz? Sperren wir die Leute sonst ein? Kriegen sie hohe Strafen? Davon halte ich einfach nichts.

STANDARD: Ist das Konsens in der Koalition? Es gibt ÖVP-Politiker, die sich für eine Impfpflicht ausgesprochen haben.

Mückstein: Ich schließe das derzeit aus.

STANDARD: Auch für die ÖVP?

Mückstein: Das müssen Sie die ÖVP fragen.

STANDARD: Sie haben angedeutet, dass die PCR-Tests nicht für immer gratis bleiben werden. War das das richtige Signal?

Mückstein: Ich habe nicht gesagt, dass sie irgendwann etwas kosten werden. Ich habe gesagt: Wir haben jetzt weit über eine Milliarde Euro für Tests ausgegeben, das war die richtige Entscheidung. Wir haben eine zunehmende Impfrate in Österreich. Wir müssen die Frage stellen, wie viele Tests brauchen wir für wen im September. Und wir müssen das Impfen am Ende attraktiv machen. Wir brauchen Geimpfte und nicht Getestete.

STANDARD: Macht die Drei-G-Regelung ab sechs Jahren Sinn, wie in Wien?

Mückstein: Unsere Regeln vom Bund aus sind die Unterkante, die Länder können verschärfen. Wir machen Regeln für das Zillertaler Bergdorf und für Favoriten. Wien hat richtig reagiert.

STANDARD: Gehört in Sachen Gesundheitsprävention stärker thematisiert, wie eng Übergewicht und schwere Covid-Verläufe korrelieren?

Mückstein: Absolut. Wir haben einen Paradigmenwechsel eingeleitet in der Gesundheitspolitik: weg vom reinen Behandeln von Krankheiten hin zu einer Sichtweise auf den Menschen, die das soziale Umfeld und Bildung beinhaltet. Da gibt es das Programm "Gesundheitsförderung 21 plus".

STANDARD: Das sollen Allgemeinmediziner umsetzen, die in manchen Regionen auf Kasse aber fehlen.

Mückstein: Auch Kinderärzte fehlen. Wir brauchen Kassenverträge, die den Lebenskonzepten der Jungen entgegenkommen. Die Medizin wird immer arbeitsteiliger. Und – ein Beispiel – die Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen sind seit langem nicht valorisiert worden. Das schauen wir uns genau an. Die Finanzierung läuft über den Familienlastenausgleichfonds. Das kann ich nicht allein entscheiden. Das habe ich gelernt in den letzten Wochen.

STANDARD: Ist das eines Ihrer Learnings aus diesen 100 Tagen im Amt, dass Sie weniger Macht haben, als man meinen würde?

Mückstein: Dass man, um Dinge zu bewegen, wesentlich mehr laufen muss, ja. Was ich alles verordnen kann, ist ein Wahnsinn, vor allem in der Pandemie. Aber so die Intensivstationen nicht überlastet zu werden drohen, gibt’s auch andere Interessen, von Landwirtschaft, Tourismus, Handel und Kultur … Und es braucht ein Einvernehmen in der Regierung.

STANDARD: Die Zusammenarbeit mit der ÖVP ist so, wie Sie sie sich vorgestellt haben?

Mückstein: Wir haben ein korrektes Arbeitsverhältnis und ein Regierungsübereinkommen, und das funktioniert recht gut.

STANDARD: Es hätte ja sein können, dass Sie vorher dachten, die Türkisen sind solche Wadlbeißer, und nun ist es ganz easy ...

Mückstein: Ich glaube, dass das politische Geschäft ein ständiges Abstimmen und Austarieren ist. Das wäre mit anderen Parteien auch nicht anders. Aber es gibt schon ein "altes Denken". Wenn die Ministerin Gewessler sagt, sie möchte wegen der Klimaziele Straßenbauprojekte evaluieren, heißt es gleich, das darf man nicht machen. Das ist altes Denken.

Wie soll Österreich 80.000 zusätzliche Fachkräfte in der Pflege finden? "Man muss bei der Ausbildung ansetzen, man muss die Praktika bezahlen, man muss über die Nostrifizierung reden von Pflegekräften, die bereits in Österreich sind und die Ausbildung bereits haben. Und wir müssen sie besser bezahlen."
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STANDARD: Zurück zur Sachpolitik: Der Ausbau der Primärversorgungszentren (PVZ) ist total ins Stocken geraten. Woran liegt das?

Mückstein: Es gibt einen einstimmigen Beschluss der Landesgesundheitsreferenten, ein neues Primärversorgungsgesetz zu machen (von November 2020, Anm.). Diesen und andere Vorschläge prüfen wir nun genau. Wir bekommen aus dem EU-Wiederaufbaufonds 100 Millionen Euro zur Stärkung der Primärversorgung. Bis Herbst sollen die Regeln stehen, unter welchen Bedingungen zum Beispiel ein Teil der Anfangsinvestitionskosten ausbezahlt werden kann.

STANDARD: Ergänzend sollen die Community-Nurses vor allem bei Pflege unterstützen und beraten. Sie sagten mit Blick auf diplomiertes Krankenpflegepersonal einmal in einem Interview, dieses solle nicht für jede Verordnung zum Arzt laufen müssen. Reden Sie darüber mit der Ärztekammer?

Mückstein: Ich glaube nicht, dass die Ärztekammer etwas dagegen hat. Wir schauen uns das jetzt an.

STANDARD: Es fehlt ja an allen Ecken und Enden Pflegepersonal, bis 2030 rund 80.000 Personen. Sie wollen vor allem auch Quereinsteiger dazu bewegen, in die Pflege zu wechseln. Wie?

Mückstein: Es gibt schon ältere Menschen, die sich das vorstellen können, die letzten 15, 20 Berufsjahre in der Pflege zu verbringen. Man muss bei der Ausbildung ansetzen, man muss die Praktika bezahlen, man muss reden über die Nostrifizierung von Pflegekräften, die bereits in Österreich sind und die Ausbildung bereits haben. Und wir müssen sie besser bezahlen.

STANDARD: Pflegende Angehörige können im Burgenland angestellt werden, andere Länder zeigen Interesse. Soll das bundeseinheitlich geschehen?

Mückstein: Ich würde mir bei vielen Dingen wünschen, dass sie bundeseinheitlich geschehen. Aber ob die Anstellung da der Weisheit letzter Schluss ist, stelle ich infrage. Care-Arbeit ist Frauenarbeit, und mir ist wichtig, dass Frauen in Vollzeitbeschäftigung gehen können. (Sebastian Fellner, Gudrun Springer, 23.7.2021)