Nach dem Abzug der US-Truppen suchen die afghanischen Sicherheitskräfte nach neuen Allianzen.

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Afghanistan ist immer noch ein Trauma für die Russen: Die sowjetische Intervention zwischen 1979 und 1989 hat auf eigener Seite mindestens 15.000 Tote und 55.000 Verletzte gefordert. Vor allem aber beförderte sie das Misstrauen der Bevölkerung in die eigene Führung und weckte Zweifel an der militärischen Stärke der eigenen Streitkräfte.

Mit Genugtuung beobachtete der Kreml daher das Scheitern der USA, die in den 1980er-Jahren noch die Mujaheddin unterstützt hatten, nach dem Attentat vom 11. September 2001 aber den gleichen Fehler begingen und in Afghanistan einmarschierten. Nach 20 langen und kräftezehrenden Jahren geht nun auch diese Nato-Mission zu Ende.

Ihr Ziel, die Befriedung des Landes und der Sieg über die Taliban, hat die Nato nicht erreicht. Im Gegenteil: Die Taliban sind erneut auf dem Vormarsch. Noch vor dem Abzug der letzten Soldaten erobern sie Gebiet um Gebiet zurück. Inzwischen kontrollieren sie wieder bis zu 50 Prozent der afghanischen Verwaltungsgebiete.

Nächtliche Ausgangssperren

Um ein weiteres Vorrücken der Taliban zu verhindern, verhängte die afghanische Regierung am Samstag nächtliche Ausgangssperren. In 31 der 34 Provinzen dürfen die Häuser und Wohnungen zwischen 22 und 4 Uhr nicht mehr verlassen werden, teilte das Innenministerium mit. Ziel sei es die "Bewegungen der Taliban einzuschränken". Nur die Provinzen Kabul, Panjshir und Nangarhar sind von der Maßnahme nicht betroffen.

"Die Taliban fühlen sich sehr stark und sind auf den Geschmack der Macht gekommen", so der Zentralasien-Experte und Chefredakteur der Nachrichtenagentur Fergana, Danil Kislow, zum STANDARD. Früher oder später werde Präsident Ashraf Ghani zurücktreten müssen, und die Taliban werden ihre Bedingungen für eine Koalition in Afghanistan diktieren, ist er überzeugt.

Darauf bereitet sich auch Moskau vor. Die russische Regierung hat ihre Aktivitäten in der Region in der jüngsten Vergangenheit stark ausgebaut. Diplomatisch und – trotz der desaströsen Erfahrungen im Afghanistankrieg – auch militärisch. Etwa 50 T-72-Panzer der russischen 201. Militärbasis in Tadschikistan vollführten Mitte der Woche einen 200 Kilometer langen Transfer zum Truppenübungsplatz Harb-Maidon nahe der afghanischen Grenze.

Stärke zeigen

Gleichzeitig übten die russischen Truppen auch mit den usbekischen Streitkräften. "Die Manöver sollen den Taliban Stärke zeigen; demonstrieren, dass Russland bereit ist, Usbekistan und Tadschikistan zu schützen", sagt Kislow.

Denn die Sorge wächst, dass der innerafghanische Konflikt auf die benachbarten ehemaligen Sowjetrepubliken übergreifen könnte. Zwar haben die Taliban eigenen Angaben nach keine Expansionspläne. Doch im Norden Afghanistans leben viele ethnische Tadschiken und Usbeken. Damit steigt einerseits der Flüchtlingsdruck – Duschanbe hat gerade angekündigt, seine Grenzen für bis zu 100.000 Flüchtlinge zu öffnen –, andererseits gibt es in beiden Ländern Bevölkerungsschichten, die mit den Taliban sympathisieren und diese als Chance sehen, die eigenen autoritären Regime abzuschütteln.

Um dies zu verhindern, verhandelt Moskau auch mit den Taliban. Obwohl diese als Terrororganisation in Russland verboten sind, weilte unlängst eine Taliban-Delegation im russischen Außenministerium. Russlands Afghanistan-Beauftragter Samir Kabulow nannte seine Kontakte zu den Taliban sogar "besser" als zur offiziellen afghanischen Regierung. Moskau hofft so zu verstehen, ob die Taliban sich tatsächlich gewandelt haben und mit ihnen ein Wiederaufbau des strategisch gelegenen, aber vom Bürgerkrieg zerstörten Landes möglich ist. (André Ballin aus Moskau, APA, 24.7.2021)