Anna Kiesenhofer, die große Sensation.

Foto: EPA/JUE

Am Ziel.

Foto: APA/AFP/GREG BAKER

Goldbeine.

Foto: APA/AP/Ena

Bild nicht mehr verfügbar.

Drei am Podest: Annemiek van Vleuten, Anna Kiesenhofer und Elisa Longo Borghini.

Foto: AP/Baker

Kiesenhofer führte die Ausreißerinnen an und ließ sie anschließend stehen.

Foto: APA/AFP/Stelle

Das Feld konnte nicht zur Österreicherin aufschließen.

Foto: imago images/Kyodo News

Silber-Gewinnerin Annemiek van Vleuten dachte, sie hätte das Rennen gewonnen.

Foto: imago images/Belga

Oyama – Als Annemiek van Vleuten am Sonntagnachmittag nach 137 kräftezehrenden Kilometern die Ziellinie des Fuji International Speedway überquerte, jubelte sie über einen Erfolg, der ihr zweifellos auch gebührt hätte. Schon vor fünf Jahren in Rio war die Niederländerin schließlich auf dem besten Weg zum Gold im olympischen Straßenrennen gewesen, ehe sie derart schwer stürzte, dass sie auf der Intensivstation landete.

Durchkalkuliert

Auch auf dem Weg zum Fuji musste van Vleuten einmal vom Rad. Die Weltmeisterin von 2018 schaffte aber wieder den Anschluss ans Feld, attackierte erfolgreich und glaubte selbst im Ziel noch daran, sich den Traum vom Olympiasieg erfüllt zu haben. Doch für Gold war sie um genau 75 Sekunden zu spät angekommen.

Dieses Gold hatte sich Anna Kiesenhofer mit einem perfekt durchkalkulierten Rennen gesichert – als Ausreißerin, auf die die Favoritinnen schlicht vergessen hatten. "Es fühlt sich unglaublich an. Ich konnte es nicht glauben. Selbst als ich die Ziellinie überquert habe, habe ich mir gedacht: 'Ist es wirklich aus? Muss ich noch weiterfahren?'", sagte die 30-jährige Niederösterreicherin, die als Mathematikerin an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne ihr Geld verdient, den Radsport nicht minder professionell betreibt, aber eben kein Profi ist. Ein Grund dafür ist, dass Kiesenhofer lieber gegen die Uhr als Rad an Rad mit Konkurrentinnen fährt.

Volles Risiko

Dementsprechend legte die dreimalige Zeitfahrmeisterin, die sich den Startplatz für Tokio in einem internen Ausscheidungsrennen gesichert hatte, ihr Olympiarennen an. Die nur 55 Kilogramm schwere Athletin wollte aktiv fahren, hielt sich aber auf dem neutralisierten Weg zum Start am Ende des Feldes. Nach Freigabe des Rennens enteilte Kiesenhofer mit einer energischen Attacke dem ungeliebten Pulk. Zu ihr gesellten sich zunächst vier Fluchtgefährtinnen. Das Quintett, von den bei Olympia durch Funk nicht unterstützten Favoritinnen kaum ernst genommen, zog davon. Erst 50 Kilometer vor dem Ziel – Kiesenhofer hatte sich mit der Polin Anna Plichta und Omer Shapira aus Israel an der Spitze etabliert und bis zu zehn Minuten Vorsprung herausgefahren – zog das Tempo im Feld an. Die finale Attacke der Österreicherin im Anstieg zum Kagosaka-Pass ereignete sich etwas mehr als sechs Minuten vor dem Peloton, aus dem heraus van Vleuten angriff.

Dass deren niederländische Kolleginnen um Titelverteidigerin Anna van der Breggen in der Folge abstellten, kam Kiesenhofer entgegen. Sie enteilte ihren Fluchtpartnerinnen und spielte über mehr als 40 Kilometer ihre Stärke im Alleingang aus. Umso bedauerlicher, dass Kiesenhofer mangels Quotenplatz für Österreich im olympischen Zeitfahren am Mittwoch nicht an den Start gehen kann.

Voll am Limit

Im Ziel brauchte sie einige Zeit, um wieder zu Atem zu kommen. "Das Überraschungsmoment war sicher auf meiner Seite, einer bekannteren Fahrerin hätten sie nicht so viel Vorsprung gegeben. Erst auf der Ziellinie habe ich realisiert, was ich geschafft habe. Bis dorthin war ich voll am Limit", sagte die Olympiasiegerin, deren erster Gratulant Nationaltrainer Klaus Kabasser war. "Was für eine Leistung!", twitterte Bundespräsident Alexander Van der Bellen. "Nach 125 Jahren gibt es wieder eine Radsportmedaille. Das ist eine unglaubliche Geschichte", spielte Verbandspräsident Harald Mayer auf Adolf Schmal an, der 1896 Olympiasieger im Zwölf-Stunden-Bahnfahren war.

Auch Mayer konnte mit Kiesenhofers Triumph nicht rechnen, aber gleich doppelt verrechnet hatte sich quasi der ORF-Kommentator des historischen Rennens. "Das ist das einzige Mal, dass wir die sehen. Die sehen wir nie wieder", hatte er im Off zu seinem Co angesichts der frühen Attacke Kiesenhofers gesagt. Davon, dass seine Kollegen die verständliche, aber respektlos wirkende Fehleinschätzung in die Nachbetrachtung zur Goldenen einfließen ließen, hätte der gute Mann vermutlich nicht einmal albgeträumt. (Sigi Lützow, 25.7.2021)

Medaillen, Frauen, Straßenrennen:

Gold: Anna Kiesenhofer (AUT) 3:52,45 Minuten
Silber: Annemiek van Vleuten (NED) 1:15 Minuten zurück
Bronze: Elisa Longo Borghini (ITA) 1:29

4. Lotte Kopecky (Belgien) 1:39
5. Marianne Vos (Niederlande)
6. Lisa Brennauer (Deutschland)
7. Coryn Rivera (USA)
8. Marta Cavalli (Italien)
9. Olga Sabelinskaja (Usbekistan)
10. Cecilie Uttrup Ludwig (Dänemark) alle 1:46