Neben der staatlichen Neuordnung des Bevölkerungsschutzes muss Katastrophenschutz künftig auch in Lehrplänen vorkommen, fordert der Sicherheitsexperte Oliver Rolofs.

Das Dach eines eingestürzten Hauses ragt in die Ahr. Den Helfern bietet sich ein Bild der Zerstörung.
Foto: AFP/Christof Stache

Der Schutz der Bevölkerung zählt zu den wichtigsten Aufgaben von Regierungen. Nach der Hochwasserkatastrophe in Teilen von Deutschland und Österreich wächst die Einsicht, dass mehr Vorsorge notwendig ist. Auch wegen der Folgen des Klimawandels. Trotzdem werden solche Katastrophenszenarien unterschätzt, obwohl die Corona-Pandemie erst gezeigt hat, wo es im Argen liegt.

Die furchtbare Hochwasserkatastrophe hat gerade in Deutschland große Lücken in den Warnsystemen offenbart. Forderungen nach einem völlig neuen Verständnis beim Risiko- und Krisenmanagement werden laut. Bevölkerungsschutz soll dabei zu einer Gemeinschaftsaufgabe ausgebaut werden. Gelingen wird das jedoch nur, wenn neben einer staatlichen Neuordnung des Bevölkerungsschutzes auf Basis eines entbürokratisierten agilen Risiko- und Krisenmanagements auch die Bevölkerung besser eingebunden, informiert und trainiert wird.

Ängste und Sorgen

Das erfordert die Schaffung kollektiver Lernprozesse, um die Resilienz von Staat und Gesellschaft und ihre Selbsthilfekapazität zu stärken. Ein effizienter Bevölkerungsschutz wird sich künftig daran messen lassen müssen, diese Anforderungen zu erfüllen.

Verschiedene Umfragen stellten in den vergangenen Jahren eine Zunahme von Ängsten und Sorgen fest, die sich auf Krisensituationen und den Bevölkerungsschutz beziehen. So verzeichnete eine 2020 veröffentlichte Studie des Versicherers R+V wachsende Sorgen in der Bevölkerung wegen der Auswirkungen des Klimawandels und Extremwetterereignissen. Diese Sorgen führen bislang jedoch nicht zu einem wachsenden Risikobewusstsein und zur Bereitschaft, vermehrt Vorsorgemaßnahmen zu treffen. Voraussetzung für einen kollektiven Lernprozess ist es, in der staatlichen Risikokommunikation nicht nur das Risikobewusstsein der Bevölkerung zu steigern, sondern eine Risikomündigkeit zu fördern. Sie soll den Bürgerinnen und Bürgern eine realistische Einschätzung von Risiken und die Grenzen staatlicher Leistungsfähigkeit aufzeigen sowie praktische Vorsorge- und Verhaltensempfehlungen vermitteln.

Ausfall kritischer Infrastrukturen

So ermittelte 2016 eine Studie der Freien Universität Berlin zur Ernährungsnotfallversorgung, dass ein großer Teil der Befragten Schwierigkeiten hätte, mit einem mehrtägigen Ausfall kritischer Infrastrukturen umzugehen. Bei einem Ausfall der leitungsgebundenen Trinkwasserversorgung könnten sich beispielsweise nur gut zwei Drittel aller Haushalte selbst mit ausreichend Trinkwasser versorgen. Der Grad der Vorbereitung unterscheidet sich stark zwischen verschiedenen Haushalten, Altersgruppen und Regionen. Beispielsweise ist die Vorratshaltung im städtischen Raum im Durchschnitt erheblich schlechter als im ländlichen Raum, jüngere Menschen sind schlechter vorbereitet als ältere. Für urbane Räume kann das bei einem flächendeckenden Ausfall der Grundversorgung, zum Beispiel infolge eines großangelegten Cyberangriffs auf Energienetze und dann folgender Kaskadeneffekte, schnell zum Verhängnis werden.

Gerade Kommunikation ist in solchen Szenarien wichtig. Die permanente Verfügbarkeit von digitalen Kommunikationsmedien, Strom und anderen Infrastrukturen hat jedoch zu einem sinkenden Risikobewusstsein geführt und die Bereitschaft für private Vorbereitungen gemindert. Eine Verständigung wäre aber etwa bei einem überregionalen Stromausfall schnell erheblich eingeschränkt, wie man es erst in den Flutgebieten verfolgen konnte. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung müsste dann über andere Kanäle erreicht werden und wäre unfähig, eigenständig Hilfe zu rufen.

Abhängigkeit von digitalen Kommunikationswegen

Auch die hohe und weiter steigende Abhängigkeit von digitalen Kommunikationswegen stellt eine wesentliche Herausforderung dar. Eine solche Hilfe seitens staatlicher Akteure wird zumeist auch von den Betroffenen vorausgesetzt. Mit den aktuellen Kapazitäten von Hilfsorganisationen sind diese Bedürfnisse jedoch kaum zu decken. Sie erfordern ein neues Mindestversorgungskonzept, das auch eine bessere zielgruppenorientierte Risiko- und Krisenkommunikation unter Nutzung neuer Kommunikationswege mit einschließt.

Soll der Bevölkerungs- und Katastrophenschutz zur Gemeinschaftsaufgabe werden, muss er auch Gegenstand von Lehrplänen und regelmäßigen Übungsszenarien werden. Hier ist Kreativität bei der Unterrichtsgestaltung gefragt. So ließe sich dieses wichtige Thema in die Fächer Sozialkunde, Geografie, Physik und selbst beim Sport sinnvoll integrieren, um bereits die junge Generation entsprechend zu sensibilisieren. Auch das Konzept der sicherheitspolitischen Bildung von Bundeswehr und Bundesheer, die Jugend- beziehungsweise Informationsoffiziere in Schulen entsenden, kann hier beispielgebend sein. Warum sollten nicht auch Katastrophenschutzorganisationen wie das deutsche Technische Hilfswerk (THW) oder der österreichische Zivilschutz im Klassenraum auftreten? Ebenso kann der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit einem erweiterten und attraktiv zu gestaltenden Informationsangebot zur Daseinsvorsorge beitragen, analog zur jahrzehntelang ausgestrahlten deutschen Verkehrserziehungssendung Der 7. Sinn.

Risikobewusstsein schärfen

Spätestens seit der Corona-Krise sollte man gewarnt sein, dass die staatliche Krisen- und Katastrophenvorsorge, auf die man als Bürger baut, trügerisch ist. Sowohl das Risikobewusstsein als auch das Vorsorgeprinzip von Staat und Bürgerinnen und Bürgern müssen grundlegend geschärft werden, damit Lücken im Bevölkerungsschutz geschlossen und wirksame Resilienzkapazitäten aufgebaut werden.

Wollen wir künftig souveräner mit den "Multirisiken" der heutigen Zeit umgehen, sollten die Prioritäten spätestens nach der jüngsten Unwetterkatastrophe endgültig klar sein. (Oliver Rolofs, 26.7.2021)