Ungarns LGBTQI-Szene erfährt von der Politik dieser Tage viel Gegenwind – am Samstag protestierte man dagegen.

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Die Veranstalter sprachen von 30.000 Teilnehmenden – und mit Sicherheit war der Pride March Budapest am Samstag der größte LGBTQI-Umzug, der in Ungarn jemals stattfand. Die Parade war auch eine Antwort auf den homophoben Feldzug, zu dem der rechtspopulistische Ministerpräsident Viktor Orbán seit kurzem bläst. "In einem Land", schrieb der sich zu seiner Homosexualität bekennende Politologe Zoltán Lakner auf Facebook, "dessen Regierung sich (…) wie der elendste und aggressivste Stalker und Schläger benimmt (…), kann jeder, der sich zeigt und für die eigene Würde und die der anderen einsteht, stolzer sein denn je."

Von der Regierung kam zunächst keine direkte Reaktion auf die Pride – dafür sprudelte es nur so vor Botschaften, die dazu angetan waren, das ungenannte Ereignis in den "richtigen Rahmen" zu rücken. Und auch die massive Kritik im westlichen Ausland am sogenannten Kindesschutzgesetz, das Jugendliche von Informationen über nichtheterosexuelle Orientierungen fernhalten soll. Die EU kündigte dagegen bereits ein Vertragsverletzungsverfahren an.

Außenminister Péter Szijjártó, Orbáns eifrigster Schildträger, meldete sich im Staatsradio zu Wort. "Hinter dem Angriff auf das ungarische Kindesschutzgesetz steht die Druckausübung eines großen internationalen Lobby-Netzwerks", tönte er. Die EU-Kommission habe lediglich ein Problem damit, dass künftig keine LGBTQI-Aktivisten in die Schulen und Kindergärten gehen könnten, um für die Homosexualität oder für Geschlechtsumwandlungen "Propaganda zu machen".

Worum es eigentlich geht

Ungarns Regierungsvertreter vermögen freilich nicht glaubhaft zu machen, inwiefern Zivilorganisationen, die in Schulprogrammen für einen toleranten Umgang mit Menschen nichtheterosexueller Orientierung sensibilisieren, eine "Propagandatätigkeit" entfalten würden, die noch dazu angetan wäre, junge Menschen von ihrer eigenen sexuellen Orientierung abzubringen.

Aber letztlich geht es gar nicht darum. Orbán sieht einer Parlamentswahl im nächsten Frühjahr entgegen, bei der erstmals eine von links bis rechts vereinte Opoosition gegen ihn antritt. Die Möglichkeit, dass er abgewählt wird, ist keine rein theoretische mehr. Nach dem Versiegen der großen Flüchtlingswanderungen von 2015, die ihm noch drei Jahre später wertvolle populistische Munition für die Wahl im Jahr 2018 geliefert hatten, suchte er nun krampfhaft nach einem neuen Thema.

Bereits im vergangenen Sommer hatte in Polen Andrzej Duda, der Kandidat von Orbáns polnischem Verbündeten Jarosław Kaczyński, mit einer homophoben Kampagne die Präsidentschaftswahl knapp gewonnen. Das Umschalten von Xenophobie auf Homophobie bedeutet für den rechtspopulistischen und ultra-rechten Mindset nur einen kleinen Switch: Die Angst vor "Homos", die "unsere Kinder verderben", vermag einen ähnlichen biologistischen Schauer auszulösen wie die "Bedrohung durch die Fremden".

Orbáns xenophobe Propaganda

Politisch tut sich jedoch ein größerer Unterschied auf. Orbáns xenophobe Propaganda, schrieb die Web-Ausgabe der Wochenzeitung HVG am Wochenende, habe noch das (Schein-)Argument ins Treffen führen können, dass die "Abwehr" von aus angeblich homophoben Kulturkreisen stammenden Fremden auch die LGBTQI-Menschen im eigenen Land schützen würde. Ungarns Führung bewegte sich damit im Umfeld jener westlichen Rechtsaußen-Kräfte à la AfD oder Geert Wilders, die in ihren Reihen selbst Politiker haben, die mit ihrer Homosexualität offen umgehen.

Der Schwenk zur Homophobie, so die HVG-Analyse, versetze Ungarn aber in einen ganz anderen Club: den der östlichen Despotien à la Russland, Kasachstan oder Kirgisien. Dort werden Homosexuelle zum Teil physisch verfolgt, in Ungarn (noch) nicht. Trotzdem wirke es wie ein Abschiednehmen vom Westen.

Bangen um die Macht

Denn, so HVG: "Eine Kampagne, wie sie Viktor Orbán verfolgt, starten typischerweise Populisten und Diktatoren, die um ihre Beliebtheit oder Macht bangen. Sie starten sie typischerweise im Namen des Kindesschutzes und der christlichen Werte, typischerweise gegen den Westen und typischerweise in Ländern, deren Bevölkerungen eben wegen ihrer eigenen Führer von einem westlichen LebensStandard größtenteils nur träumen können." (Gregor Mayer aus Budapest, 25.7.2021)