Wer den Ersatz für die Wiesel-Züge der ÖBB liefert, ist ebenso umkämpft wie der Nachfolgeauftrag für die S-Bahn-Züge in Wien.

Foto: Matthias Cremer

Wien – Die ÖBB sorgt für einen Totalausfall der 2016 beim kanadischen Zugausrüster Bombardier bestellten S-Bahn-Züge für Vorarlberg und Tirol vor. Die Staatsbahn hat vor wenigen Wochen eine Beschaffung angekündigt, deren Größenordnung alles bisher Dagewesene sprengt: Angekauft werden sollen bis zu 270 Elektrotriebzüge mit 75 Metern Länge und 270 Stück mit einer Länge von hundert Metern.

Das erschließt sich aus der veröffentlichten Ausschreibung. Allein das Volumen dieses Rahmenvertrags lässt nur einen Schluss zu: Die ÖBB-Personenverkehr AG will sich rüsten für den Fall, dass die 46 für Vorarlberg und Tirol bei der inzwischen mit der französischen Alstom fusionierten Bombardier bestellten Regionalzüge in absehbarer Zeit nicht auf Schiene kommen.

Zulassungsproblem

Für die inzwischen in der Alstom Transport Austria aufgegangene Bombardier Austria ist das Zulassungsproblem nicht minder unangenehm wie für die ÖBB. Vorarlberg wartet bis dato vergeblich auf das einst für Frühsommer 2019 zugesagte Rollmaterial. Die Verspätung ist einzigartig und macht im Fuhrparkmanagement der ÖBB längst Probleme. Inzwischen wurden für den Einsatz in Ostösterreich vorgesehene Elektrotriebzüge des Typs Desiro ML von Siemens in den Westen verlagert, um nicht ohne Zugmaterial dazustehen. In der größten Pendlerregion Österreichs, im Verkehrsverbund Ost-Region (VOR), kommen stattdessen die längst für das Abstellgleis vorgesehenen blau-weißen Schnellbahngarnituren zum Einsatz, die seit bald vier Jahrzehnten herumkurven, alt und vor allem nicht barrierefrei sind.

Bleiben länger im Einsatz als geplant: Die vor bald 40 Jahren von der damaligen Simmering Graz Pauker in Verkehr gebrachten Wiener Schnellbahn-Züge.
Foto: Andy Urban

Mit der Ausschreibung des riesigen Rahmenvertrags – sie ist nicht zu verwechseln mit der vorsorglichen Ersatzausschreibung von 46 Zügen vom Dezember, die nicht nur mit der kurzen Lieferfrist auf den bewährten Desiro-ML von Siemens zugeschnitten scheint – erhöht die Staatsbahn den Druck auf Alstom/Bombardier, die ihrerseits seit Herbst 2020 versucht, zumindest eine befristete oder eingeschränkte nationale Zulassung zu erwirken.

Wie mit der Materie vertraute ÖBB-Auskenner berichten, spieße es sich mit der ÖBB an Dingen wie dem Zugsicherungssystem ETCS, die in der Ausschreibung des inzwischen zum Problemzug mutierten Talent-3 zugesichert worden waren. Da die Vorarlberger Strecken aber noch gar nicht mit dem Europäischen Zugsicherungssystem ausgerüstet sind, wäre eine Nachrüstung auch nachträglich möglich.

Nationale Zulassung?

Einen Ausweg aus der Notlage könnte theoretisch das Verkehrsministerium herbeiführen, sagen mit Zugzulassungen vertraute Branchenkenner. Wohl ist für die Genehmigung des viele Monate unter Softwareproblemen leidenden Talent-3-Zuges die Europäische Eisenbahnagentur (Era) zuständig. Da für den Einsatz im Ländle vorerst aber eine nationale Zulassung ausreichen würde, könnte die österreichische Zulassungsbehörde im Verkehrsministerium eine solche erteilen – bis das umfangreiche Era-Prozedere durchlaufen wurde. Bombardier sei zwar vertragsbrüchig, aber der Talent-3 sei im Prinzip einsatzfähig, fasst ein Insider zusammen. All das ginge schneller als der Bau neuer Züge, heißt es.

Auf Kollisionskurs

Es könnte aber auch ganz anders kommen. Denn die ÖBB und Alstom/Bombardier sind längst auf Kollisionskurs. Der Aufsichtsrat der Staatsbahn hat laut STANDARD-Informationen einen Mehr-Punkte-Plan genehmigt, der dem Vernehmen nach von Pönalezahlungen bis zum Widerruf des Rahmenvertrags mit Bombardier/Alstom reicht – inklusive Bestellung von Alternativen zum Bombardier-Problemzug. Letzteres ist mit der neuen Ausschreibung auf den Weg gebracht.

Wiewohl sich die Verspätung, die der Talent-3 inzwischen aufgerissen hat, nicht mehr aufholen lässt: Ökonomisch bringen die Pönalezahlungen, die Alstom Austria mit hoher Wahrscheinlichkeit zahlen wird müssen, der ÖBB einen Vorteil: Gegengerechnet mit dem Kaufpreis eines neuen Zuges verbilligt sich die Neuanschaffung – egal, bei welchem Anbieter gekauft wird. Würde die ÖBB aus dem 2016 geschlossenen Talent-3-Rahmenvertrag abrufen, wäre dieser Zug unschlagbar billig. Beobachter und ÖBB-Insider halten das freilich für ausgeschlossen. Zu viel Porzellan sei zerschlagen.

Widerspruch gegen Vergabe

Dazu trägt auch Alstom bei. Die Franzosen machen nämlich bei einer anderen, auf ein Volumen von 400 Millionen Euro taxierten Auftragsvergabe Probleme: der Bestellung von Doppelstockzügen für den Einsatz in Wien und Niederösterreich. Den Ersatz für die in die Jahre gekommenen "Wiesel-Züge" wollte die ÖBB bei Stadler Rail in der Schweiz kaufen. Derzeit steht aber alles. Denn gegen den Zuschlag erwirkte Alstom eine einstweilige Verfügung – DER STANDARD berichtete exklusiv.

Ob die Vergabe wiederholt werden muss, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht. In der Verhandlung am vorigen Montag ging es selbst im volksöffentlichen Teil, dem DER STANDARD beiwohnte, heiß her. Der Vorwurf: Es liege eine Interessenkollision vor, weil ÖBB und Stadler bereits über ein Joint Venture für Instandhaltung von Westbahn-Zügen aus dem Hause Stadler verbandelt seien. Die ÖBB bestreitet jeden Interessenkonflikt vehement.

Chinesen bleiben draußen

Wie auch immer der Konflikt ausgeht: Ein Abruf aus dem Rahmenvertrag mit Bombardier, der bis zu 300 Züge umfasste, scheint vor diesem Hintergrund unwahrscheinlich – obwohl die Talent-3-Züge aufgrund der zu erwartenden Pönalezahlungen unschlagbar billig wären.

In der neuen Ausschreibung für die 540 Single-Deck-Elektrotriebzüge sucht die ÖBB einem zweiten "Fall Talent-3" jedenfalls vorzubeugen: Anbieter müssen nachweisen, dass ihre Züge in Europa seit zwei Jahren im Einsatz sind, und zwar nicht mit Prototypen, sondern in Serie mit mehr als hundert Zügen. Wer das und finanzielle Kriterien (mehr als 500 Millionen Euro Umsatz, etc) nicht nachweisen kann, kommt gar nicht ins Verhandlungsverfahren. Damit werden nicht nur Ost-Anbieter wie Škoda ausgebremst (die gerade dabei ist, die Talent-Produktion von Bombardier zu übernehmen), sondern auch Züge aus China, die noch zu kurz am Markt sind. (Luise Ungerboeck, 26.7.2021)