Einer meiner neuen Nachbarn. Mit ihm ist nicht gut Kirschen essen.

Foto: Foto: Screenshot/CD Projekt Red

Eine Alternative zu "Pokémon Go", die im blutigen und brachialen "The Witcher"-Franchise rund um die Bücher, Computerspiele und Serien* angesiedelt ist – das klingt doch per se schon mal interessant. Und der polnische Publisher CD Projekt Red steckte die Erwartungen noch einmal höher, als man auf der Witcher Con vor ein paar Wochen verkündete, "The Witcher: Monster Slayer" solle eine ähnliche Spielerfahrung bieten wie "The Witcher 3: Wild Hunt" – eine insofern gewagte Ansage, als dass "Wild Hunt" CD Projekt Red einst zum wertvollsten Unternehmen der Warschauer Börse gemacht hatte, bevor man sich mit "Cyberpunk 2077" vor rund einem halben Jahr brutal in die Nesseln setzte.

Kommt "The Witcher: Monster Slayer" also an "Wild Hunt" heran? So viel sei gleich zu Beginn verraten: Selbstverständlich nicht – aber das hat außer der Marketingabteilung des Publishers vermutlich ohnehin niemand geglaubt. Trotzdem zeigt sich im Test, dass das neue AR-Game mächtig Spaß machen kann und eine willkommene Abwechslung zu den Spielen des Konkurrenten Niantic bietet.

"Pokémon Go" als Ausgangsbasis

Doch schauen wir uns zuerst die Konkurrenz an, bevor wir uns dem eigenen Hexerleben widmen. Denn seit 2010 ist Konkurrent Niantic in diesem Feld aktiv. Gegründet von ehemaligen Google-Mitarbeitern, nutzt man Google Maps, um eine Spielerfahrung in der Augmented Reality zu bieten: Der Spieler spaziert in der realen Welt, und analog dazu bewegt sich seine Spielfigur auf einer virtuellen Google-Karte. Zwischendurch kann er mit expliziten Points of Interest agieren, die digitale Zwillinge von Sehenswürdigkeiten und Bauwerken in der realen Welt sind.

Das erste Spiel auf Basis dieses Konzepts hieß "Ingress" und erschien nach einer geschlossenen Beta (ab November 2012) offiziell im Dezember 2013. Hier kämpfen zwei Fraktionen um die Macht über eine dunkle Materie, indem sie Portale – die zuvor erwähnten Points of Interest – eroberten. Dieses Konzept wurde mit dem 2016 erschienenen und deutlich erfolgreicheren "Pokémon Go" abgewandelt: Die Portale wurden zu Pokéstops und Arenen, zusätzlich erschienen die kleinen Taschenmonster des beliebten japanischen Franchises auf der Landkarte. Das im Juni 2019 erschienene "Harry Potter: Wizards Unite" erweiterte das Gameplay zusätzlich: Es konnten Zaubertränke gebraut werden; zudem gab es einen Skilltree, wie man ihn aus Rollenspiel-Games (RPGs) am PC kennt.

So, nun aber genug von der Geschichtsstunde – sie war bloß nötig, um einzuordnen, was an "The Witcher: Monster Slayer" neu ist. Denn die Gemeinsamkeiten mit "Pokémon Go" halten sich in Wahrheit sehr in Grenzen. So bewegt man auch hier die Spielfigur, indem man in der realen Welt spazieren geht. Auch dieses Spiel ist gratis und verleitet zum Geldausgeben. Man kann sich mit Leuten anfreunden und ihnen Geschenke schicken. Und auch hier begegnet man allerlei Monstern – aber das war es eigentlich auch schon mit den Gemeinsamkeiten. Vielmehr ähnelt das Spiel vom Gameplay an "Harry Potter: Wizards Unite" und vermittelt – ja, das darf ich als jemand schreiben, der alle Bücher des Franchises gelesen hat – relativ gekonnt die Atmosphäre des monsterverseuchten Witcher-Kontinents.

Einführung in das Gameplay von "The Witcher: Monster Slayer"

Wer "The Witcher: Monster Slayer" startet, der findet neben der Karte, einem Kompass zur Ausrichtung derselben und einer Anzeige bezüglich des Wetters am unteren Rand fünf Menüpunkte.

Der erste Menüpunkt führt zu einer Ansicht des Spielcharakters, den man sich zu Beginn des Spiels erstellt. Außerdem können hier befreundete Spieler angesehen werden, mit denen man diverse Gegenstände über Geschenke austauscht – so wie man es von "Pokémon Go" kennt. Der zweite Punkt zeigt das schon aus dem Franchise bekannte Wolfsmedaillon: Tippt man auf dieses, so sieht man die in der Nähe befindlichen Monster.

Eine typische Spielszene aus der Vogelperspektive.
Foto: Screenshot/CD Projekt Red

Der dritte Punkt zeigt die täglichen Ausgaben, welche sich meistens um banale Dinge wie "Braue drei Tränke" oder "Wirf fünf Bomben" drehen – bei Erfüllung selbiger gibt es 50 Coins Belohnung, die man wiederum im vierten Menüpunkt – dem Ingame-Shop – einlösen kann.

Der fünfte Menüpunkt wiederum teilt sich in Einzelpunkte, welche diverse Features ansprechen, die man auch von RPGs am PC kennt. Im "Tagebuch" werden die aktuellen Quests und bekannte Charaktere vorgestellt, das "Bestiarium" zeigt die bereits besiegten Monster. Das "Inventar" zeigt – surprise! – die eingesammelten Gegenstände, außerdem lassen sich hier diverse Tränke brauen und Bomben herstellen. Und unter "Fertigkeiten" finden sich schließlich die Skilltrees, über welche man sich im fortschreitenden Spiel in Kampf, Alchemie und den Hexerzeichen weiterentwickeln kann.

It's the story, stupid!

Während Tränkebrauen und Skilltree noch geringfügig an "Harry Potter: Wizards Unite" erinnern, setzt "The Witcher: Monster Slayer" an anderer Stelle neue Maßstäbe: dem Versuch, über Quests und Charaktere in einer erweiterten Realität echte Geschichten zu erzählen.

So treffe ich gleich nach dem kurzen Tutorial auf einen Händler, dessen entführtes Pferd ich suchen soll. Ich gehe ein paar Straßen weiter und muss feststellen, dass von dem treuen Gaul nicht viel mehr übrig ist als ein abgerissener Schädel. Ich betreibe Ursachenforschung und stelle sofort fest: Das war ein Greif! Also ziehe ich weiter, um den geflügelten Schuft zu suchen, finde ihn in einem nahegelegenen Park und kämpfe gegen ihn. Freilich erwarte ich mir dafür vom Händler eine Belohnung, doch dieser zückt bloß eine abgenudelte Schatzkarte und bittet mich, mit ihm auf Schatzsuche zu gehen – mit dem Versprechen, den Schatz anschließend aufzuteilen.

Augmented Reality auf meinem Balkon: Der Händler ist animiert, das Monster im Vordergrund ist echt.
Foto: Foto: Screenshot/CD Projekt Red

So nimmt das Unheil seinen Lauf. Denn zwar finden sich die Charaktere der ursprünglichen Saga nicht in diesem Spiel, da es als Prequel zeitlich vor den Büchern und bisherigen Spielen angesiedelt ist, jedoch nimmt der Händler sehr überzeugend jene Rolle ein, die in der ursprünglichen Saga auf die Figur des Dandelion fiel: Er weicht nicht von meiner Seite, hilft nie, hat ständig Angst und plappert wie ein Wasserfall. Damit ist er nur einer von vielen Charakteren, die man während des Spiels kennenlernt – und die das Herz des Witcher-Fans ansprechen können, sofern man sich für dadaistisch plappernde Nervensägen erwärmen kann.

Und auch die Story setzt sich so fort, wie man es von einem "Witcher"-Ableger erwartet: Natürlich entpuppt sich der Schatz als Enttäuschung, weshalb wir eine Gelehrte in einer nahegelegenen Stadt aufsuchen, die uns wieder mit einer neue Aufgabe versorgt – durch welche wir einen neugierigen und zugleich ordentlich verpeilten Botenjungen kennenlernen.

Die Handlung wird durch gezeichnete Cut-Scenes vorangetrieben.
Foto: Foto: Screenshot/CD Projekt Red

An dieser Stelle muss ich mich selbst bremsen, um nicht zu viel zu spoilern. Doch so viel sei gesagt: Die Handlung reicht freilich nicht an jene der Bücher, der Netflix-Serie oder von "Wild Hunt" heran. Aber der pechschwarze Humor der Romane wurde gekonnt eingefangen, nicht wenige Male bin ich breit grinsend mit meinem Smartphone in der Hand auf offener Straße gestanden. Hier punkten die Polen ganz klar gegen die Konkurrenz.

Single- vs. Multiplayer: Einsam statt gemeinsam

Das bedeutet allerdings auch, dass man hauptsächlich allein durch die Straßen zieht, um die einzelnen Aufgaben zu erfüllen. Der Multiplayer-Aspekt des Spiels beschränkt sich bisher darauf, Pakete von Freunden zu erhalten und diesen wiederum Pakete zu schicken. Die von "Pokémon Go" bekannten "Raids" entfallen ebenso wie das aus "Ingress" bekannte gezielte Attackieren einzelner Portale. Man wird also vorerst keine Hexer-Horden durch Wiens Straßen ziehen sehen.

Was ist hier passiert?
Foto: Foto: Screenshot/CD Projekt Red

Auch unterscheidet sich dieses Spiel von den Niantic-Games dadurch, dass auch dieses zwar auf Google Maps aufbaut, es aber keine expliziten Points of Interest im Stil von Portalen oder Arenen gibt. Das dürfte vor allem daran liegen, dass CD Projekt Red auf keine entsprechende Community zurückgreifen kann. Schade, denn das bedeutet auch, dass ich meine Spielfigur zwar durch Spazieren steuere, aber nicht zum Beispiel aktiv mit dem Türschild meines Lieblingsbäckers agieren kann.

Wetter, Tageszeiten und Nemetas

Kompensiert wird dies dadurch, dass das Spiel auf die Topografie reagiert: So finden sich wandelnde Wasserleichen nicht in Hietzing, wohl aber beim angrenzenden Wienfluss. Außerdem ändert sich das Spiel mit dem Wetter – "Wind's howling!" – und der Tageszeit: Gewisse Tränke machen den Hexer nachts stärker, manche Monster kommen nur in der Dunkelheit heraus.

Nicht getestet, aber im Lauf des Tests entdeckt wurden außerdem die Nemetas: Ab Stufe 10 kann hier gegen Monster gekämpft werden, um Gold und Erfahrungspunkte zu verdienen – wohl ähnlich wie bei den Raids in "Pokémon Go". Außerdem können ähnlich wie bei "Pokémon Go" Köder ausgelegt werden, um Monster bei Nemetas anzulocken.

Kämpfen und Tränke brauen

Falls es bis dato nicht klar rübergekommen sein sollte: Mit dem kindlich-verspielten Erscheinungsbild von "Pokémon Go" hat dieses Spiel recht wenig zu tun. Die Monster sind regelrechte Ekelbratzen mit scharfen Zähnen und langen Krallen. Dementsprechend werden sie auch nicht drollig mit einem Bällchen eingefangen, sondern abgeschlachtet – dabei wehren sie sich freilich.

Die Monster sind Typen, denen man nicht im Dunklen begegnen möchte.
Foto: Foto: Screenshot/CD Projekt Red

Im Kampfsystem kann man auf das zurückgreifen, was man schon aus den PC- und Konsolenspielen kennt: eine Mischung aus schnellen und starken Hieben, Paraden und Hexerzeichen – also Zauberei für Minderbemittelte, wie die holde Yennefer sagen würde. Je nach Attacke- und Parade-Effizienz sind außerdem besonders starke Angriffe möglich. Vor dem Kämpfen wiederum kann sich der Spieler mit Bomben, Tränken und Ölen aufmotzen – diese stellt man selbst her oder kauft sie im Shop.

Zur Herstellung der Tränke braucht man Zutaten, die man entweder durch das Erledigen von Monstern ergattert oder am Wegesrand aufsammelt. Für diese Gegenstände ist nur eine beschränkte Beutelgröße vorhanden. Und natürlich hat man nicht immer alle Tränke gebraut, die man aktuell zum Besiegen des besonders mächtigen Monsters – und somit zum Absolvieren einer Quest – benötigt. Auch finden sich nicht immer alle benötigten Zutaten, um "drei Tränke zu brauen" und somit die Tagesaufgabe zu erfüllen.

Pay to Win?

Sie ahnen es wohl schon: Genau an dieser Stelle kommt der spielinterne Shop ins Spiel, in dem man sich bessere Waffen, Tränke, Bomben, Zutaten und auch einen größeren Sack** besorgen kann. Bedeutet das, dass man Geld einwerfen muss, um im Spiel zu bestehen?

Jein. Ähnlich wie bei anderen Spielen dieser Art kommt man auch hier weiter, wenn man bereit ist, statt echtem Geld lieber Lebenszeit zu investieren – also noch etwas länger durch die Straßen zu ziehen und Kräuter zu sammeln, um anschließend die Daily Quests zu erfüllen und somit genug Gold für die Endgegner bei der Hand zu haben. Aber die Versuchung ist natürlich groß, einfach reales Geld zu investieren.

An dieser Stelle ein Wert zur Orientierung: Ich habe an einem Nachmittag drei Stunden gespielt, bin dabei rund 12.000 Schritte gegangen, habe keinen Cent an realem Geld investiert und bin nun auf Level 7.

Fazit: Ich spiele weiter

Für Fans des "Witcher"-Franchises ist "The Witcher: Monster Slayer" ohnehin Pflichtprogramm – schon allein, um die neuen Charaktere kennenzulernen, die sich vielleicht an anderer Stelle dieses multimedialen Universums wiederfinden. Doch auch anderen Menschen ist das Spiel zu empfehlen: nämlich jenen, die gerne AR-Spiele spielen, mit den knuffigen Pókemon aber einfach nichts anfangen können. Ihnen bietet sich ein sehr niederschwelliger Zugang, bei dem man deutlich schneller in die Welt des Hexers eintaucht als etwa mit der Netflix-Serie oder gar den Romanen. Den Shop kann man nutzen, man muss es aber nicht.

Ich selbst werde auf jeden Fall weiterspielen, denn es gilt einfach noch zu viele Aufgaben zu lösen. Als Nächstes werde ich mich in einen verhexten Sumpf begeben. Dafür habe ich einen Zaubertrank im Gepäck, der mich zwar vor den Sumpfgasen schützt, gleichzeitig aber meine Kampffähigkeit mindert. Das sollte aber kein weiteres Problem sein, wie mir der örtliche Quacksalber verspricht. Ich vertraue ihm – auch wenn ich weiß, dass das in der Welt des Hexers meistens eine schlechte Idee ist. (Stefan Mey, 26.7.2021)

*im Plural, denn lange vor der Netflix-Serie gab es auch eine "The Witcher"-Serie, die in Polen produziert wurde.

**es sei an dieser Stelle noch erwähnt, dass nicht alle Aspekte des "Witcher"-Franchises in das AR-Game übernommen wurden. Sie wissen, was ich meine. Es wäre auf offener Straße einfach nicht angebracht.

Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: CD Projekt Red hat für den Test Ingame-Währung zur Verfügung gestellt, die jedoch im ersten Anlauf nicht genutzt wurde, um eine möglichst realistische Schilderung des Freemium-Modells zu gewährleisten.