Wild gestikulierend, rotzfrech und selbstbestimmt: Opernstar Asmik Grigorian als Senta in Bayreuth.
Foto: Enrico Nawrath

Eigentlich waren zu neunzig Prozent Regen angesagt, doch vor dem Hotel brennt die Sonne vom Himmel. "Jetzt ist es aber heiß geworden", klagt eine Besucherin und tupft sich den Schweiß von der Stirn. "Irgendeinen Tod müssen wir ja sterben, das ist in Bayreuth immer so", antwortet ihr Begleiter.

Auf dem Trockenen blieben auch die Besucher der diesjährigen Eröffnungspremiere des Fliegenden Holländers: kein Meer und kein Schiff weit und breit, stattdessen beklemmende Kleinstadtatmosphäre auf der Bühne. Regisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakov, in den vergangenen Jahren gleich mehrfach als Regisseur des Jahres ausgezeichnet, nahm Wagners Wunsch, aus dem Fliegenden Holländer keinesfalls eine Gespensterfarce zu machen, beim Wort und inszenierte die Geschichte als düsteres Kammerspiel fern jeder Romantik.

Auf der Bühne stehen also kubistisch anmutende, helle Backsteinfassaden, die Laternen verströmen ein diffuses Licht, es ist nebelig trüb. Ein kleiner Junge und seine Mutter betreten die Szenerie. "Der sonderbare, immer wiederkehrende Traum des Holländers", ist die Ouvertüre überschrieben. Bei Tcherniakov lauert das Grauen nicht bei den Untoten, sondern verbirgt sich hinter den klinisch reinen Häuserfassaden und ihren Bewohnern, die die junge Frau wegen einer außerehelichen Affäre in den Selbstmord treiben. Sie erhängt sich vor den Augen ihres Sohnes. Sieben Jahre später kehrt dieser in die Stadt zurück, um seine Mutter zu rächen.

Starke Bühnenmomente

Nach einem Trinkgelage in der Kneipe buhlt er erst um die Tochter eines Mannes (hat jener seine Mutter in den Tod getrieben?), und erschießt dann ein paar Krawallmacher, ehe er selbst getötet wird.

Man mag die romantisch-mythischen Elemente in Wagners Oper, wo am Ende in weiter Ferne der Holländer und Senta in verklärter Gestalt dem Wasser entsteigen, vermissen; Tcherniakovs Idee, die Geschichte als abgründiges Rachedrama zu inszenieren, macht aber durchaus Sinn und sorgt immer wieder für starke Bühnenmomente.

Wenn etwa das Ehepaar Daland und Mary im engen Wintergarten anteilnahmslos die Festtafel decken, wo Senta und der Holländer aufeinandertreffen, dann hat das etwas von einer unbehaglichen Spießigkeit. Leider bekommt man von der emotionalen Wucht der Begegnung nur wenig mit, weil die Protagonisten – je nach Sitzplatz – streckenweise hinter den Fensterrahmen verschwinden.

Kahlrasiert mit Strickpulli

Der Holländer erscheint, wie von Wagner selbst beschrieben, "als ganz und gar wirklicher Mensch", kahlrasiert, in weißem Strickpulli und blauem Mantel. Der schwedische Bariton John Lundgren ist eine mächtige Erscheinung, und wenn er mit bebender Stimme singt: "Die Frist ist um", dann schaudert es einen bis in die letzten Reihen. Schade, dass er im Lauf der Inszenierung an Strahl- und Stimmkraft einbüßt.

Umso mehr strahlen Erik (Eric Cutler), der hier erfreulicherweise nicht als Opfer dargestellt wird, sowie der Steuermann, hinter dem sich Attilio Glasers wunderbar klarer Tenor verbirgt. Großartig auch die Figur der Mary (Marina Prudenskaya) als Symbol der biederen, zugleich unterschätzten Ehefrau und Stiefmutter.

Selbstbestimmte Frau

Unangefochtener Star des Bayreuther Ensembles ist allerdings Asmik Grigorian als rotzfreche, rebellische und auf Krawall gebürstete Senta mit wasserstoffblonden Haaren, Tschik im Mund und bunt lackierten Nägeln. Mit ihrer hypernervösen, wild gestikulierenden Erscheinung und der gleißenden, mancherorts an Hysterie grenzenden Stimme erweist sie sich als Idealbesetzung für Tcherniakovs Deutung, in der die Senta nicht als heilbringende Erlöserin, sondern als echte, selbstbestimmte Frau inszeniert wird.

Eine Sensation für sich war die Dirigentin des Abends, Oksana Lyniv, die als erste Frau in der 145-jährigen Festspielgeschichte die musikalische Leitung innehatte und mit viel Spannung und Tempo durch die Partitur führte sowie für irisierende, in Klang gegossene Gefühle zwischen Ablehnung und Besessenheit, Wut und Verzweiflung sorgte.

Statt der gewohnten Schlussapotheose endet Tcherniakovs Geschichte mit einem lauten Knall. Der Holländer schießt in die Menge der feiernden Dorfbewohner, es gibt Tote, und die Häuser beginnen zu brennen. Senta ist wie versteinert. Da hat Mary endgültig genug vom Unruhestifter und richtet ihn unter dem Klang der Harfen und Trompeten mit der Schrotflinte. Es gab mehrheitlichen Applaus für den Gesang, stehende Ovationen für Asmik Grigorian und Oksana Lyniv sowie vorhersehbare Buhs für die Regie. (Miriam Damev aus Bayreuth, 26.7.2021)