Seit 2015 versucht die von Jarosław Kaczyński geführte rechtskonservative Regierungspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit) die Justiz unter vollständige politische Kontrolle zu bringen.

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Die berechtigte Kritik aus Brüssel an den besorgniserregenden Vorgängen in Ungarn hat bis zum am vergangenen Dienstag veröffentlichten Ultimatum der EU-Kommission an Polen die dramatische Verschärfung des Konflikts zwischen der Europäischen Union und der rechtspopulistischen polnischen Regierung überschattet. Es geht dabei um eine grundsätzliche Auseinandersetzung um die Rechtsstaatlichkeit. Wenn die Warschauer Regierung nicht bis zum 16. August bestätigt, dass sie das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) über die sofortige Einstellung der Tätigkeit der Disziplinarkammer respektiert, will die Kommission beim EuGH Strafzahlungen beantragen. Die berüchtigte Disziplinarkammer kann Richter ihres Amtes entheben und ihre Immunität aufheben. Die Kommission antwortet mit dieser Warnung auf eine Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichtes, das dem obersten europäischen Gericht das Recht bestritten hatte, sich in die polnische Rechtsordnung einzumischen.

Seit ihrem Wahlsieg 2015 versucht die von Jarosław Kaczyński geführte rechtskonservative Regierungspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit) noch viel offener und radikaler als Viktor Orbáns Fidesz-Partei die Justiz unter vollständige politische Kontrolle zu bringen. Dazu gehörte als erster Schritt die Säuberung des Verfassungsgerichtes durch PiS-Parteigänger.

"Wir müssen auf dem Primat des europäischen Rechts bestehen", sagte die für Rechtsstaatlichkeit zuständige Vizepräsidentin der EU-Kommission, Věra Jourová. "Wenn wir nicht eingreifen, wäre das ein Bruch der Grundarchitektur des europäischen Rechtssystems."

Als Schrittmacher gilt der rechtsextreme Justizminister und zugleich Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro, der die Richter für Disziplinarverfahren ernannt hat und den harten, EU-feindlichen Flügel in der Regierungspartei vertritt. Der starke Mann Polens bleibt noch immer der 72-jährige Kaczyński, der – obwohl formell nur stellvertretender Ministerpräsident – bei allen wichtigen Fragen das letzte Wort hat.

Es bleibt abzuwarten, wie Polen auf das Ultimatum reagieren wird. Was die EU-Kommission und noch mehr das EU-Parlament betrifft, scheint die Zeit der gesichtswahrenden faulen Kompromisse sowohl im Falle Polens wie auch in dem Ungarns unwiderruflich vorbei zu sein.

Der in diesem Jahr in Kraft getretene Rechtsstaatsmechanismus bedeutet, dass im Falle der Billigung durch den EuGH Polen und Ungarn bedeutende Summen an EU-Fördergeldern entzogen werden können. Die frühere deutsche Bundesjustizministerin und sozialdemokratische Vizepräsidentin des Europaparlaments, Katarina Barley, drückt eine weitverbreitete Meinung aus, als sie sagt: "Die polnische oder die ungarische Regierung will nicht aus der EU austreten, sondern sie von innen zersetzen." Kaczyński und Orbán wollten eine EU, "in der sie weiterhin Milliarden an europäischen Steuergeldern bekommen, aber damit und bei anderen Dingen tun und lassen können, was sie wollen".

Im Falle finanzieller Sanktionen könnte allerdings nicht nur für Polen und Ungarn, sondern auch für Bulgarien und Rumänien und auf lange Sicht sogar für die Zukunft der EU eine völlig neue Situation entstehen. (Paul Lendvai, 27.7.2021)