Ja, ich gebe es zu: Ich bin neidig. Wobei eines wichtig ist: Ich beneide zwar die Frauen, die da jeden Mittwoch auf der Hauptallee gemeinsam laufen – aber das bedeutet nicht, dass ich ihnen den Spaß und das Gruppenerlebnis nicht gönne. Denn auch wenn ich 1.000 Frauen kenne, die geschützte Räume wie einen "Frauenlauf" für sich selbst nicht brauchen, und ich für mich selbst in Anspruch nehme, mit allen Menschen gleichermaßen auf Augenhöhe zu kommunizieren: Wenn die 1.001. und die 1.002. Frau sich mit so einer Veranstaltung wohler, sicherer und motivierter fühlt und solange es Männer gibt, die "Eh okay – für ein Mädchen" sagen, sind Events wie der Österreichische Frauenlauf nicht bloß wichtig: Sie sind unverzichtbar. Das nur vorweg.

Thomas Rottenberg

Weshalb genau ich neidig bin? Nun: Ich durfte ausnahmsweise und nur dieses eine Mal mitlaufen. Vorletzten Mittwoch, als die Macherinnen des Frauenlaufs zum offiziellen "Fit in zwölf Wochen"-Trainingsstart auf der Prater-Hauptallee luden, meinte Frauenlauferfinderin Ilse Dippmann, ich dürfe mit einer der Gruppen beim Intervalltraining mitmachen. Natürlich nur, wenn es die Teilnehmerinnen nicht störe. Weil die alle "Ja, ausnahmsweise" sagten, lief ich eben mit: zehnmal die 400 Meter im ungefähren Wettkampftempo.

Thomas Rottenberg

Ja eh: Trainingstechnisch gibt es so was natürlich auch anderswo. Aber gruppendynamisch und emotional ziemlich sicher nicht: Das Feeling vor, während und nach den Tempopassagen, das gemeinsame Lachen und ein dermaßen ansteckendes, partnerschaftliches "Du kannst das, wir können das, darum machen wir es gemeinsam"-Gefühl habe ich anderswo so noch nie erlebt.

Und das hatte, bestätigten mir die Frauen, mit denen ich da unterwegs sein durfte, eben nix mit meiner "Hahn im Korb"-Rolle zu tun: "Das ist hier einfach so. Darum laufen wir hier so gerne mit." Deshalb: Ich bin neidig. Absolut. Trotzdem ist es gut und richtig, dass es ist, wie es ist.

Thomas Rottenberg

Auch weil ich ein Freund von institutionalisierten Empowerment- und Awareness-Leuchttürmen bin.

Der Frauenlauf hat in diesem Universum in Österreich eine ganz zentrale Rolle inne: Die von Ilse Dippmann 1988 erstmals abgehaltene Veranstaltung hat sich in den letzten 32 Jahren zu einer der größten Sportveranstaltungen in diesem Land entwickelt.

Was mit 440 Damen im Schlosspark von Laxenburg begann, brachte 2019, als der Event das letzte Mal stattfinden konnte, über 30.000 Frauen auf die Straße. "Nur" um Sport ging und geht es da nie: Der Lauf unter dem Motto "We run to move" wird als Metapher verstanden und kommuniziert. Dafür, dass Frauen und Mädchen auf sich stolz sein sollen. Dass das alles ganz ohne männliche Be- oder Abwertung, Relativierung oder gar Erlaubnis gilt und funktioniert. Und dass es wichtig ist, diejenigen, die sich nicht oder noch nicht trauen, abzuholen.

Thomas Rottenberg

Tatsächlich geht es genau um dieses "Abholen": Um ein Ziel zu erreichen, Erfolgserlebnisse, Nachhaltigkeit und die Lust auf Wiederholung, mehr oder noch mehr zu schaffen, braucht es einen Tick mehr als nur einen ersten, naiven Schritt ins Blaue. Da hilft System. Gemeinschaft. Anleitung. Ermutigung und Feedback.

Darum gibt es die Trainingsläufe und -gruppen des Frauenlaufes in ganz Österreich: Mitmachen darf jede – auch wenn sie nicht beim finalen Event, heuer am 3. Oktober, dabei ist. De facto meldet sich aber so gut wie jede an.

Thomas Rottenberg

Der bekannteste Lauftreff des Frauenlaufs findet jeden Mittwoch auf der Prater-Hauptallee statt: Ab 18.15 Uhr sind Dippmann und ihre Trainerinnen beim Stadionparkplatz am Vorbereiten: Über 20 geführte Gruppen – etwa zehn für die Fünf-Kilometer-Bewerbe, ebenso viele für den Zehner plus Gruppen für Nordic-Walking und Kindertraining – nehmen den "Dorfplatz" der heimischen Laufszene dann ab 18.30 Uhr für eine Stunde in Beschlag. Und auch wenn da mitunter 400 und mehr Frauen in Pulks nach Plan unterwegs sind, ist das System so ausgefeilt, dass man weder einander noch anderen in die Quere kommt.

Thomas Rottenberg

Dippmanns Trick ist nicht nur das Gruppen- und Wir-Gefühl, sondern auch der geschickte Einsatz von Role-Models. Von Frauen, die zeigen, was alles möglich ist, wenn frau will und ein bisserl reinbeißt.

Die aber trotzdem nicht entrückt-unnahbar sind, sondern ansprech- und angreifbar – und beim gemeinsamen Training mitmachen und beim Laufen bei hochsommerlichen Temperaturen dann genauso schwitzen und schnaufen wie Normalsterbliche. Role-Models, die genau das auch als Teil ihrer Botschaft verstehen. Menschen wie Julia Mayer etwa.

Thomas Rottenberg

Die 28-Jährige ist eine der schnellsten Frauen des Landes. Ihre aktuelle 10.000-Meter-Bestzeit liegt bei 33:21,66", den Halbmarathon schafft sie in 1:12:52 – die jeweils drittbesten Zeiten, die je von Österreicherinnen gelaufen wurden.

Und auch wenn viele Frauen (aber auch so gut wie alle Männer) angesichts dieser Zeiten und der elf Staatsmeistertitel der einstigen AHS-Lehrerin zumindest leicht blass werden, ist das kein Grund, sich zu fürchten – oder nicht mitzulaufen: Wenn Mayer sagt: "Lauft einfach mit", lacht die (Sport-)Berufssoldatin alle Bedenken und Schwellenängste auf den ersten Metern ganz locker weg. Unaffektiert, ohne Arroganz oder elitäre Attitüde: "Toll, dass ihr da seid. Ich weiß, wie hart es ist, Ziele zu erreichen und sich selbst zu pushen. Das ist für alle gleich – und verdient allerhöchsten Respekt."

Thomas Rottenberg

Sollte das nicht selbstverständlich sein? Ja.

Wieso ich es dann herausstreiche? Weil es dieses Leistungen-Relativieren, dieses Performance-Marginalisieren, dieses Sich-über-andere-Stellen natürlich schon gibt. Im Sport ist es besonders fies, weil augenscheinlich ja sogar "objektiviert": Zeiten und Zahlen sind schließlich unwiderlegbar.

Nur: Wozu? Wer braucht derlei billige Triumphe?

Spitzensportler und -sportlerinnen jedenfalls nicht: Ich habe noch keinen Spitzenathleten, keine Elitesportlerin getroffen, die sich so verhalten hätte: Derlei kommt ausschließlich (und gern anonym) von Menschen, die selbst höchstens – wenn überhaupt – Mittelmaß sind. Wenig überraschend öfter von Männern als von Frauen.

Von Menschen, die tatsächlich Spitzenleistungen im Sport draufhaben, kommt immer Motivation, Lob und Anerkennung.

Thomas Rottenberg

Das Tolle an Sport mit Eliteathletinnen oder -athleten ist, dass Normalo-Schwellenängste meist wirklich in dem Augenblick verfliegen, in dem der Lauf losgeht: Die Gruppe hat ein paar Fragen, man lacht und plaudert – und wenn der oder die "Prominente" es nicht auf das Gegenteil anlegt, fühlen sich nach den ersten 200 oder 300 Metern wirklich alle inkludiert und mitgenommen.

Auch bei Intervallen: Das Tempo, das Rosemarie, die Trainerin der Gruppe, anschlug, dürfte einigen der Frauen diesmal ein bisserl leichter als sonst gefallen sein. Denn mit einem Lächeln im Gesicht und in der Erwartung der Geschichten, die Julia Mayer dann in den Trabpausen (also zwischen den Intervallen) erzählen würde, fällt Gasgeben doch einen Tick leichter.

Thomas Rottenberg

Um diese Leichtigkeit, um dieses staunende Lachen, wenn plötzlich gelang, was zuvor undenkbar schien, geht es. Nicht nur bei diesem einen Training – sondern immer.

Um das Gefühl und die Erkenntnis, weit mehr zu können, als man sich bisher selbst zugetraut hat. Als einem oder einer als Ziel oder Möglichkeit überhaupt zugestanden wurde. Aber das plötzlich, quasi aus dem Nichts, einfach da ist. Und sich anfühlt, als wäre es immer schon da gewesen.

Das Seltsame an der Sache: Das war es ja auch.

Nur musste es aufgeweckt, wachgekitzelt und auf die Bühne geholt werden.

Thomas Rottenberg

Genau das zu tun ist die große Kunst des Frauenlaufes und seiner Trainingsgruppen. Nicht nur bei einer, sondern bei tausenden Frauen.

Und Laufen ist nur der erste Schritt, eine Metapher für "Empowerment": "Ich kann das!" Das ist wichtig – und ich gönne es jeder, die davon profitiert.

Neidig bin ich trotzdem: Dieses eine Mal mitlaufen zu dürfen hat nämlich richtig Spaß gemacht. (Thomas Rottenberg, 27.7.2021)


Der 33. Asics – Österreichischer Frauenlauf findet am 3. Oktober auf der Prater-Hauptallee statt. Kostenlose Trainingsgruppen zum Programm "Fit in 12 Wochen" gibt es an 50 Orten in ganz Österreich. Die Gruppen im Prater laufen jeden Mittwoch um 18.30 Uhr los.


Weiterlesen:

Gruppenbildung: Die Vorzüge des gemeinsamen Laufens

Was Laufneulinge beim ersten Wettkampf beachten sollten

20 Jahre "Kärnten läuft": Ein Ausflug auf den Katschberg

Thomas Rottenberg