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Tong hatte schon vor einem Jahr seine erste Gerichtsanhörung in Hongkong.

Foto: AP/Vincent Yu

Mehr als ein Jahr ist es her, dass Peking überraschend das Nationale Sicherheitsgesetz für Hongkong erlassen hat. Anfangs soll nicht einmal die lokale Regierungschefin Carrie Lam gewusst haben, was genau in dem Gesetz steht. Die darauffolgenden Wochen bestätigten aber Befürchtungen von Demokratie-Anhängern: Peking hat nun weitreichende Befugnisse in der Sonderverwaltungszone, die die autonomen Freiheiten dort weitgehend aushebeln. Das erste Urteil unter dem neuen Gesetz fiel am Dienstag: Der 24-jährige Tong Ying-kit wurde für schuldig befunden, andere zur Sezession angestiftet zu haben.

Frage: Was genau wurde Tong Ying-kit vorgeworfen?

Antwort: Der 24-jährige Demokratie-Aktivist soll am 1. Juli 2020, also einen Tag nachdem das Gesetz erlassen worden ist, bei einem Protest in Hongkong mit einem Motorrad in eine Ansammlung von drei Polizisten gefahren sein. Dabei hat er eine Fahne an seinem Motorrad befestigt gehabt, auf der "Befreit Hongkong, die Revolution unserer Zeit" ("Liberate Hongkong, revolution of our time") stand. Ein Video dokumentiert die Szene. Aufgrund des Vorfalls wurden ihm zwei Vergehen vorgeworfen: Erstens soll er mit der Flagge gegen das neue Sicherheitsgesetz verstoßen haben, ihm wurden Terrorismus und Anstiftung zur Sezession vorgeworfen. Zweitens wurde wegen gefährlichen Fahrens mit Körperverletzung als Folge ermittelt. Der ehemalige Kellner hatte sich in allen Punkten für unschuldig erklärt.

Frage: Wie begründeten die Richter ihre Entscheidung?

Antwort: Die drei Richter am Hongkonger Gericht befanden Tong am Dienstag des ersten Vorwurfs für schuldig. Der zweite Vorwurf wurde gar nicht behandelt. Bei dem Prozess ging es vor allem um die Interpretation des Slogans. In ihrer Begründung erläuterte Richterin Esther Toh, dass "das Zurschaustellen dieser Worte andere dazu anstiften kann, Sezession zu betreiben". Tong sei sich der separatistischen Bedeutung des Slogans außerdem bewusst gewesen, seine Aktion habe "schweren Schaden für die Gesellschaft" versursacht. Sogar wenn sie falsch lägen in der Annahme, dass der Slogan die Hongkonger Unabhängigkeit bedeuten würde, seien sie "immer noch der Ansicht, dass der Slogan eine politische Agenda vertritt", hieß es weiter.

Frage: Warum würde jemand Hongkongs Unabhängigkeit fordern, und was ist das Problem dabei?

Antwort: Hongkong war bis 1997 britische Kronkolonie. Damals lief ein hundert Jahre alter Pachtvertrag aus, der Ende des 19. Jahrhunderts zwischen Großbritannien und dem damaligen Qing-Kaiserreich geschlossen wurde. Die Volksrepublik China und Großbritannien hielten bei der Übergabe vertraglich fest, dass das semidemokratische System, das in Hongkong unter britischer Herrschaft aufgebaut wurde, weitere 50 Jahre erhalten bleiben soll. Peking hatte es aber zunehmend eilig, die Sonderverwaltungszone rascher in das eigene System einzugliedern. Peking zufolge wuchs die Gefahr stetig, dass sich Hongkong abspalten könnte. Gegen Pekings Maßnahmen wurde immer wieder in Hongkong lautstark demonstriert. Bei den Massenprotesten ab 2019 gingen über eine Million Menschen auf die Straßen. Die Corona-Pandemie und das Sicherheitsgesetz brachten die Proteste zu einem jähen Ende.

Frage: Wie hoch ist die Strafe für Tong?

Antwort: Das Strafmaß wurde noch nicht bekanntgegeben. Am Donnerstag will der Oberste Gerichtshof noch strafmildernde Argumente anhören. Dem jungen Aktivisten droht aber eine bis zu lebenslange Haftstrafe. Pro-Demokratie-Aktivisten hatten bereits zuvor kritisiert, dass Tong in den vergangenen Monaten Kaution verwehrt wurde. Das Verfahren fand außerdem ohne Geschworene statt, die in Hongkong in solchen Fällen normalerweise vorgesehen sind.

Frage: Was bedeutet das Urteil für die Sonderverwaltungszone?

Antwort: Das Urteil hat weitreichende Folgen für Hongkongs Meinungsfreiheit. Effektiv wurde mit dem Urteil das Recht auf freie Meinungsäußerung stark eingeschränkt. Der Slogan, der nun als illegal befunden wurde, war zu Zeiten der Massenproteste allgegenwärtig – sei es auf Wänden, als Sticker oder im Internet. Es zeigt sich, dass vormals harmlose Parolen unter dem neuen Sicherheitsgesetz als terroristisch eingestuft werden.

Frage: Was bedeutet das Urteil für andere bereits inhaftierte Demokratie-Aktivisten?

Antwort: Tong ist zwar der erste Hongkonger, der nach dem Sicherheitsgesetz verurteilt wurde. Es sitzen aber bereits etliche Menschen wegen ähnlicher Vorwürfe in U-Haft. Unter ihnen befindet sich zum Beispiel der bekannte Demokratie-Aktivist Joshua Wong oder der Medienunternehmer Jimmy Lai, dessen regierungskritisches Medium "Apple Daily" Ende Juni geschlossen wurde. Das Urteil vom Dienstag ist für deren Prozesse wegweisend. Von den mindestens 128 nach dem neuen Gesetz Verhafteten wird mehr als der Hälfte die Verwendung jenes Slogans vorgeworfen. Die drei Richter wurden von der Peking-treuen Regierungschefin Carrie Lam eingesetzt, um Fälle in Verbindung mit dem neuen Gesetz zu bearbeiten. (saw, APA, Reuters, 27.7.2021)