Monatelang bemühten sich die Anwohner des Stalingrad-Viertels im Nordosten von Paris mit offenen Briefen, Appellen und Petitionen. Vergeblich: Weder die Stadtregierung noch der Polizeipräfekt unternahm etwas gegen den berüchtigten Drogenumschlag am "Platz der Schlacht von Stalingrad" im 19. Arrondissement. Da schritten die Anwohner selber zur Tat. Mit Pfannendeckeln machten sie um 20 Uhr an ihren Fenstern so viel Lärm wie möglich, um die Dealer zu vertreiben.

Dann demonstrierten sie auf der Straße, um die Evakuierung von Drogenkranken in den Hauseingängen zu verlangen. "Es ist dramatisch, heute setzen sich diese armen Kerle sogar vor unseren Kindern einen Schuss", erklärte eine Mutter namens Anna zu Journalisten. Eines Abends im Mai gingen auf dem Dealerplatz plötzlich Böllerschüsse los. Unbekannte, hinter denen Anwohner vermutet werden, schossen Feuerwerkskörper in Richtung der Drogenhändler ab. Darauf kehrte endlich Ruhe ein.

Dutzende Drogen-Hotspots

Eine prekäre Ruhe. Das Drogenproblem der Lichterstadt ist keineswegs gelöst. "Stalincrack", wie der Umschlagplatz im Volksmund heißt, ist nur einer von 66 Drogenverkaufsstellen in Paris. Im ganzen Großraum der französischen Hauptstadt wurden über 900 gezählt, ein Drittel davon im Banlieue-Departement Seine-Saint-Denis. Dort benützen die Drogenbanden die verwinkelten Zugänge der Immigranten-Wohnsiedlungen für ihre Geschäfte. An die Wände von zehn- und fünfzehnstöckigen Treppenhäusern pinseln sie die Preise: marokkanischer Shit für zehn Euro pro 1,8 Gramm, Kokain aus Bolivien für 30 Euro das halbe Gramm, Crack für 60 Euro das Gramm.

Die Einwohner sind machtlos. In der Gemeinde Saint-Ouen, ebenfalls im Nordosten von Paris gelegen und für seinen Flohmarkt bekannt, schlossen Anwohner mit den Dealern im letzten Sommer einen Deal: Nachtruhe ab 22 Uhr, dafür rufen die Bewohner nicht die Polizei.

Drogen-Zeltstadt

Die kommt sowieso nie. Bei tausend Hotspots kann sie nicht überall eingreifen – und wenn sie es tut, verlagert sie das Problem nur. Im Sommer 2018 schloss Polizeipräfekt Didier Lallemand, ein Vertrauter von Präsident Emmanuel Macron, den sogenannten "Crack-Hügel" nördlich des Stalingrad-Platzes. Dort, im Schatten mehrerer Autobahnbrücken, hatten sich hunderte Dealer und Konsumenten aus der ganzen Agglomeration mit Zelten richtiggehend angesiedelt.

Als die Polizei den gefährlichen und verwahrlosten Ort räumte, dachte niemand an flankierende Sozialmaßnahmen. Dafür ist in Macrons Augen die rot-grüne Stadtregierung verantwortlich. Um die Drogensüchtigen von der Straße zu bringen, öffnete Bürgermeisterin Anne Hidalgo einen nahe gelegenen Park, die Jardins d’Eole. Wie nicht anders zu erwarten, zog er den Crackhandel wie ein Magnet an. Ende Juni hat Präfekt Lallemand nun auch diesen Park entlang der Zuggeleise räumen lassen.

Die Sperre der Jardins d'Eole für die Öffentlichkeit zugunsten von Drogensüchtigen löste im Mai Proteste aus.
Foto: AFP/van der Hasselt

Schweizer Modell

Eine Auffanglösung für die Crackkonsumenten hat er nicht zu bieten. Das überlässt die Regierung weiterhin der städtischen Sozialhilfe. Die Leiterin des bisher einzigen Fixerraums in Paris, Elisabeth Avril, setzt sich seit langem für das Schweizer Vier-Säulen-Modell (Prävention, Therapie, Schadenseingrenzung und Repression) ein. Die Stadt Zürich zähle vier "salles de shoot" (Fixerräume), der zehnmal so bevölkerungsreiche Großraum Paris aber nur einen einzigen. Auch die Covid-Krise habe das Drogenproblem in Paris nur noch verschärft. Die Zahl der Crackkonsumenten im Großraum Paris wurde vom Drogenzentrum CSAPA schon 2019 auf 13.000 geschätzt; laut Sozialhelfern sind die Zahlen seither stark gestiegen.

Die Jardins d'Eole wurden im Juni wieder geräumt.
Foto: AFP/Saget

Bürgermeisterin Hidalgo hat nun angekündigt, sie wolle "noch in diesem Sommer" den ersten Auffangraum allein für Crackkonsumenten öffnen. Wo, wagt sie aus Angst vor Bewohnerprotesten nicht im Voraus anzugeben. Der Widerstand ist groß: Die Einwohner betuchter Viertel wollen nicht zulassen, dass ihre Wohnung durch einen nahen Drogenraum an Wert verliert. Auch in den ärmeren Vierteln um Stalingrad wehren sich die Eltern dagegen, dass sie nach den Migrantenlagern der letzten Jahre nun auch noch Drogenkonsumenten aufnehmen sollen.

Streit vor Wahl

Eine Lösung scheitert aber nicht nur am Widerstand der Anwohner und den fehlenden Budgetmitteln. Der politische Streit verunmöglicht jedes einvernehmliche Vorgehen. Macrons Innenminister Gérald Darmanin ist kategorisch gegen Fixerräume oder ähnliche Anlaufstellen. Hidalgo wirft der Macron-Regierung vor, die Polizeieinsätze erbrächten keine dauerhafte Lösung.

So schieben sich der Staatspräsident und die Bürgermeisterin gegenseitig den Ball zu. Bis zu den Präsidentschaftswahlen 2022, bei denen Macron wie Hidalgo antreten wollen, bleibt die dramatische Lage in "Stalincrack" zweifellos ungelöst. (Stefan Brändle aus Paris, 27.7.2021)