Kängurus sind an sich kuriose Tiere – ebenso kurios ist die Geschichte der Entdeckung, wie die Neugeborenen es in den Beutel schaffen.
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Trivia-Fans wissen, dass weibliche Kängurus zwei Gebärmütter und drei Vaginen haben – zwei echte und eine "unechte". Die Schwangerschaft ist – typisch für Beuteltiere – sehr kurz (33 Tage), und das Neugeborene sieht überhaupt nicht aus wie ein kleines Känguru. Erst im Beutel wächst es über Monate heran. Der Joey, wie die Australier das Kängurubaby liebevoll nennen, ist bei der Geburt nur wenige Zentimeter groß, blind, haarlos, rosafarben und von gallertartiger Beschaffenheit.

Wie aber kommt dieser völlig hilflos wirkende Wurm von der Vagina in den Beutel? Diese vermeintlich simple Frage beschäftigte die Naturforscher mehr als ein Jahrhundert lang. Die Antwort war verblüffend, und vom Rätsellöser kannte man bis vor kurzem nur den Namen. Aber der Reihe nach.

Als um 1790 erstmals lebende Kängurus nach Großbritannien kamen, war die Faszination groß. Sie hüpften nicht nur possierlich in englischen Gärten umher, sondern vermehrten sich auch so prächtig, um als diplomatische Geschenke versandt zu werden. 1804 überließ der britische König Georg III. der kaiserlichen Menagerie in Schönbrunn zwei Paar "Riesenkängurus" – "geborene Engländer", wie der Wiener Zoologe Leopold Fitzinger spöttelte.

Nachwuchs im Dunkeln

Waren das richtige Säugetiere?, fragten sich die Naturforscher. Um Fragen der Klassifikation nachzugehen, wurden zunächst Gebärmütter und Milchdrüsen seziert und in Alkohol eingelegt, das war die bewährte Methode. Aber den Geburtsvorgang selbst konnte man mit toten Tieren nicht rekonstruieren. Das Aufkommen des Zoos zur selben Zeit ermöglichte zumindest prinzipiell dessen Beobachtung.

Der erste Naturforscher, der die Gelegenheit nutzte, war Richard Owen, später der größte Widersacher von Darwins Evolutionstheorie. Im Spätsommer 1832 brachte Owen die verstreut untergebrachten Kängurus des Londoner Zoos (gegründet 1828) zusammen, um so für Nachwuchs zu sorgen. Dies gelang, wie die Aufregung eines Muttertiers bewies, das immer wieder in seinen Beutel spähte. Nur – die Wärter hatten nicht gesehen, wie das Kleine dort hingelangt war. Die Geburt geschah im Dunkel der Nacht.

Owen stellte nun die Theorie auf, dass die Mutter den Winzling mithilfe ihrer Lippen dort hineinsetzte. Mit ihrem Mund konnte sie bequem Vagina und Beutel erreichen. Der Winzling konnte die Reise ja wohl kaum selbst bewältigen. Nahm man ihn von der Zitze ab, landete er hilflos auf dem Boden des Beutels, wie ein "Experiment" zeigte. Owen ließ aber einen Restzweifel stehen. Um wirklich sicher zu sein, müsse man den Vorgang auch tatsächlich beobachten.

Publikumsmagnet Känguru: Schon im Zoo des 19. Jahrhunderts (hier in Köln) waren Besucher vom Baby im Beutel fasziniert.
Foto: Ludwig Beckmann / "Leipziger Illustrierte Zeitung" (1864)

Das verbleibende 19. Jahrhundert hindurch bemühten sich vor allem deutsche Naturforscher in Zoos in Berlin, Frankfurt und Leipzig, das Rätsel der Kängurugeburt zu lösen. Tierwärter wurden angewiesen, die schwangeren Kängurus Tag und Nacht zu observieren. Aber immer und immer wieder verpassten die Beobachter den Übergang in den Beutel. Ein ums andere Mal schrieben die deutschen Gelehrten: Zwar hätten sie es nicht mit eigenen Augen gesehen, aber der große Owen habe wohl recht: Die Mami macht’s.

In der Öffentlichkeit gerann diese Vermutung zur Gewissheit. Gleich ob in Zeitungsartikeln, Handbüchern oder Tierenzyklopädien, überall war zu lesen: Das Baby wird von der Mutter mithilfe der Lippen in den Beutel gesetzt.

Australische Emanzipation

Zeit, die Perspektive zu wechseln. Im Laufe des 19. Jahrhunderts kam es gelegentlich auch zu Beobachtungen von Kängurugeburten in Australien. Schon 1830 hatte der schottische Schiffsarzt Alexander Collie in einem kurzen Aufsatz berichtet, dass das Neugeborene den Weg in den Beutel selbstständig zurücklege. Owen zitierte diesen Text sogar – ignorierte aber diese entscheidende Beobachtung. Wie kann das sein?

Wissenschaftshistoriker verweisen auf das enorme Gefälle an Prestige zwischen Koryphäen wie Owen, fest etabliert im Zentrum der Macht, und den Zuträgern aus den fernen Winkeln des Empires. Die Kronkolonie verfügte kaum über eine eigene Forschungsinfrastruktur, also Universitäten, wissenschaftliche Gesellschaften und Zeitschriften. Was die Kollegen in Australien selbst dachten, war für die Elite in London irrelevant – sie sollten gefälligst Material liefern. Die Interpretation war der Metropole vorbehalten.

Um 1900 herum entstanden jedoch erste Risse in dieser Hierarchie zwischen Zentrum und Peripherie. Das Känguru war für die Australier nicht irgendein Tier, auch wenn es fleißig gejagt wurde. Für das aufkommende Nationalbewusstsein repräsentierte es das Besondere ihrer Nation, die sich vom Mutterland zu emanzipieren suchte. 1912 landete das Känguru, gemeinsam mit dem Emu, auf dem Wappen Australiens. Aus der Kolonie wurde schrittweise ein selbstständiger Staat.

Die Kängurugeburt war somit kein rein akademisches Thema und wurde in den australischen Medien diskutiert. Am 3. Jänner 1913 veröffentlichte die in Perth erscheinende "Western Mail" einen Brief eines gewissen A. Goerling. Dieser Farmer hatte schon im Jahre 1906 eine verblüffende Beobachtung gemacht. Das neugeborene Känguru "bewegte sich langsam, sehr langsam durch das Fell nach oben". Goerling verweist auf die beim Embryo stark ausgeprägten Vordergliedmaßen. Die Mutter hingegen schenkte der Reise des Kleinen keinerlei Aufmerksamkeit. Die Auflösung des Rätsels machte aber erst langsam die Runde.

Triumph des "Buschmanns"

Der Brief erschien bezeichnenderweise in der Selbsthilfekolumne, die von William Catton Grasby betreut wurde. Als schließlich Anfang der 1920er-Jahre der Bronx-Zoo Goerlings These bestätigte, schrieb Catton Grasby voller Genugtuung: "Diese Beobachtungen des Zoologen aus Amerika bestätigen lediglich, was die Leser der Spalte ‚Gegenseitige Hilfe‘ bereits wissen." Denn "hauptsächlich Buschmänner" hätten das Rätsel schon zehn Jahre vorher gelöst. Mit anderen Worten: Australische Amateure aus dem Outback triumphierten über die Großkopferten aus London und New York.

August Goerling auf Marloo Station, seiner australischen Farm.
Foto: Trove / Australischer Bibliothekenverbund

Über diesen "Buschmann" war bis vor kurzem außer seinem Namen nichts weiter bekannt. Jüngste Recherchen brachten nun zutage, dass es sich um einen deutschen Einwanderer handelte: August Goerling, geboren 1865 in Bremen, war als 24-Jähriger nach Australien emigriert und konnte sich schließlich in der Nähe von Perth etablieren. Marloo Station hieß seine Farm. Gemeinsam mit dem Tierhändler Joseph Menges belieferte Goerling deutsche Zoos mit großen Mengen von Beuteltieren. Wer um 1900 etwa den Zoo in Frankfurt besuchte, konnte dort sage und schreibe (nach der damaligen Nomenklatur) 30 verschiedene Känguru-Arten bestaunen.

Der Zoo hatte letztlich indirekt doch zur Lösung des Rätsels beigetragen, nämlich durch seine Nachfrage nach immer neuen Arten. Goerling, ein geschickter Känguru-Fänger, machte aus seiner Farm eine Zwischenstation und konnte die Reise des Kleinen in den Beutel schließlich bei drei verschiedenen Arten bei sich zu Hause beobachten. In späteren Jahren erwarb er sich den Ruf eines kundigen Entomologen. Er starb am 14. Jänner 1941. (Oliver Hochadel, 31.7.2021)

Oliver Hochadel ist Wissenschaftshistoriker in Barcelona und forscht zur globalgeschichtlichen Verflechtung der Zoos um 1900.