Maske tragen und Teststraße aufsuchen: Auch in Zeiten fallender Infektionszahlen bei den Briten keine schlechte Idee.

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Die Briten bleiben rätselhaft. Kaum hat die konservative Regierung von Boris Johnson alle Covid-Beschränkungen aufgehoben, sinkt plötzlich die Zahl der positiv Getesteten um ein Drittel. Epidemiologen bleiben skeptisch. "Bitte bleiben Sie weiterhin sehr vorsichtig", warnte daher auch Premierminister Boris Johnson am Mittwoch die Bevölkerung.

Seit Mitte Mai, als Pubs und Restaurants auch im Innenraum wieder öffnen durften, war die Infektionsrate scheinbar unaufhaltsam angestiegen. Mit der entsprechenden Verzögerung galt dies auch für die Zahl von Patienten, die einer Behandlung im Spital bedürfen, sowie für die Corona-Toten.

Zuerst steiler Anstieg ...

Superspreader-Events wie mehrere EM-Fußballspiele in Glasgow und London leisteten ihren Beitrag zur neuen Welle. Kopfschüttelnd, teils auch mit scharfer Kritik begleiteten führende Wissenschafter das Vorgehen der Regierung. Bei den Spielen waren bis zu 60.000 Fans im Stadion selbst erlaubt, zusätzlich feierten (und randalierten) Hunderttausende in den Städten. Neil Ferguson, ein prominentes Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Regierung, hielt in diesem Sommer bis zu 200.000 tägliche Neuinfektionen für möglich.

Stattdessen könnte der Peak von knapp 55.000 bereits zehn Tage zurückliegen. Noch am Mittwoch vergangener Woche lag die Sieben-Tage-Inzidenz bei 472, seither gab es aber einen Rückgang um 31 Prozent – wie kommt’s?

Weniger Tests, lautet die naheliegende, aber nicht ausreichende Antwort. Denn ihre Zahl ging über die Woche zwar zurück, aber nur um 14 Prozent. Als weitere Faktoren nennen Experten das Ende des Schuljahres und die Reiselust vieler Briten.

Zudem haben einer Schätzung des Statistikamtes ONS zufolge mittlerweile 92 Prozent der Erwachsenen in England und Wales Antikörper gegen das Virus im Blut.

... dann fallende Zahlen

Zwar mag von Herdenimmunität kaum noch jemand reden; doch der Effekt scheint mehr und mehr realistisch zu sein – ironischerweise gespeist von Events wie der Fußball-EM. Dass diese Ereignisse "so eine große Wirkung haben würden, wie das offenbar der Fall war", sagt Medizinprofessor Paul Hunter, "wäre mir nie in den Sinn gekommen".

Vorsicht bleibt angebracht, schließlich liegt die Aufhebung von Maskenpflicht und Mindestabstand erst eine gute Woche zurück. Zudem bleibt ihre Auswirkung offenbar begrenzt: Restaurant- und Ladenbetreiber berichten vielerorts, dass zumindest ältere Briten über 40 an den monatelang eingeübten Verhaltensweisen festhalten. In Bussen und Bahnen wird dies ohnehin weiter empfohlen, in der Londoner U-Bahn ist es sogar verpflichtend.

Wissenschafter wie James Naismith von der Uni Oxford warnen vor voreiligen Schlüssen, denn hoch genug liegt die Inzidenz immer noch, am Mittwoch immerhin bei 417. Steigend bleibt auch die Zahl der Covid-Patienten im Krankenhaus.

Dieser Tage beseitigt das Kabinett ein Hindernis, das der milliardenschweren Tourismusbranche bisher schwer zugesetzt hat: Derzeit besteht die alberne Situation, dass die auf der Insel mit Astra Zeneca, Biontech/Pfizer oder Moderna Geimpften ohne Quarantäne nach England zurückkehren dürfen, wer aber seine beiden Dosen dieser Medikamente auf dem europäischen Kontinent oder in den USA bekommen hat, sich für fünf oder sogar zehn Tage isolieren muss. Das hat vor allem die lukrativen Kurzbesuche zum Erliegen gebracht. (Sebastian Borger aus London, 29.7.2021)