Im Vorzimmer stehen noch die ungeöffneten Koffer, Julian Rachlin und seine Frau sind erst spät in der Nacht von einer Konzertreise heimgekommen. Journalistin und Fotografin vom STANDARD werden am frühen Vormittag von einem munteren Geiger und seinem lustigen Hund begrüßt.


STANDARD: Wären Sie, wie Sie sich das als Kind gewünscht hatten, Fußballer geworden und hätten Sie so eine Karriere gemacht wie als Geiger: Bei welchem Klub würden Sie gespielt haben?

Rachlin: Das ist eine sehr gefährliche Frage, weil Sie wissen wollen, wo ich mich als Musiker sehe. Das habe aber nicht ich zu beurteilen.

STANDARD: Man kann es aber objektivieren. Sie kamen mit Ihren Eltern mit drei Jahren von Vilnius nach Wien, gaben mit acht Ihr erstes Konzert, gewannen mit 13 den "Eurovision Young Musician Of The Year"-Wettbewerb, spielten mit 14 als jüngster Solist ever mit den Wiener Philharmonikern. Hätten Sie in dem Tempo gekickt …

Mit 15 habe er alles Erreichbare erreicht gehabt, sagt Geiger und Dirigent Julian Rachlin. Das Gefährliche daran hat er selbst erlebt.
Foto: Regine Hendrich

Rachlin: Schauen Sie, mit 15 war meine Biografie fertiggeschrieben, da hatte ich alles erreicht, was man erreichen kann. Aber ist das wirklich der Sinn? Das klingt toll, ist eine wunderbare Angeberei – aber es ist sehr gefährlich. Im Sport hat man Zeit, bis man 30, 35 Jahre alt ist …

STANDARD: Tennisstar Roger Federer ist 40 und denkt jetzt ans Aufhören …

Rachlin: Ja, es gibt Ausnahmen. Für einen Solisten auf der Geige im Hochleistungssegment ist es mit 60, maximal 70 Jahren definitiv aus. Danach sollte man ganz genau wissen, welche Werke man noch spielen kann. Auch ich analysiere ständig, was ich nicht kann.

STANDARD: Aus physischen Gründen?

Rachlin: Ja. Diese unfassbare Virtuosität auf der Violine erreicht man zwischen 15 und 25 Jahren, der physische Zerfall bei einem Geiger beginnt mit circa 25.

STANDARD: Dann geht’s bergab?

Rachlin: Ja, ab 25 geht’s nur noch bergab.

STANDARD: Ist das nicht traurig?

Rachlin: Nein, das ist faszinierend. Ich spreche ja ausschließlich von der absoluten Reaktionsschnelligkeit, der Perfektion, der Virtuosität. Musiker sind ja keine Sportler.

STANDARD: Klingt aber so.

Rachlin: Ja, insofern, als es um Hochleistung geht. Aber es gibt eine riesige andere Dimension: Wenn man als Musiker sehr diszipliniert sehr viele Stunden täglich konsequent am Instrument arbeitet, merkt diesen Zerfall niemand, man merkt ihn fast selbst nicht. Aber er findet statt. Je älter du wirst, desto mehr musst du trainieren. Was glauben Sie, warum trainiert Rafael Nadal immer mehr, oder eben Federer?

Rafael Nadal (links) und Roger Federer in Wimbledon 2019. Der Schweizer besiegte den Spanier im Halbfinale in vier Sätzen.
Foto: Imago/Colorsport

STANDARD: Üben und Trainieren gegen den eigenen Zerfall?

Rachlin: Ja, man übt gegen den eigenen Zerfall. Aber es kommt dann etwas anderes dazu: die Musikalität, das Verständnis für die Musik, für die Materie, die Komposition, die Analyse, die Erfahrung – all das bringt man ins Spiel und das kann ein junger Musiker nicht haben.

STANDARD: Das hört das Publikum?

Rachlin: Das spürt das Publikum. Und kommt ein zweites Mal oder eben nicht.

STANDARD: Was ist denn das Gefährliche am schnellen Karrieremachen? Dass man sich verliert?

Rachlin: Viele brennen aus, erkennen, dass sie immer nur geübt haben, während die anderen Jugendlichen gelebt haben. Man ist nicht mehr das "Wunderkind", aber auch noch nicht erwachsen. Bei mir war das zwischen 18 und 23 Jahren: Man hat Wunder erwartet, und mir wurde auf einmal bewusst, was ich da mache.

STANDARD: Sie haben plötzlich reflektiert?

Rachlin: Ja, das ist so wie bei Spitzensportlern, die alles gewinnen, unantastbar sind, und plötzlich geht es nicht mehr. Ich selbst habe damals vor dem Auftreten gewusst, dass ich es nicht schaffe, dass ich meine Leistung nicht erbringen werde. Obwohl ich fleißig war wie immer. Es war eine Kopfsache.

STANDARD: Hat das Publikum etwas davon gemerkt?

Rachlin: Das weiß ich nicht. Aber ich war nicht in meinem Element. Ich war nicht ich. Wenn man auf die Bühne geht, muss man sich wohlfühlen, das hat nichts mit Arroganz zu tun. Unsicherheit und Selbstzweifel und Demut muss man haben, das ist ganz wichtig vor dem Schritt auf die Bühne und nach dem Auftritt. Aber im Moment des Auftritts bist du der König. Da weißt du, dass es gut wird.

STANDARD: Üben Sie eigentlich noch immer im Behindertenklo am Flughafen, wenn Sie auf Konzertreisen unterwegs sind?

Rachlin: Selten, nur wenn es sein muss und es sich mit dem Üben davor nicht ausgegangen ist. Es klingt komisch, aber das Behindertenklo ist wirklich ein Superort zum Üben: groß genug, und man stört selten. Na, wo soll ich sonst üben? Im Wickelraum ginge es auch gut, aber da störe ich mehr, denn es gibt weniger davon in Flughäfen. Ich übe auch manchmal im Flugzeug, aber nur, wenn es niemanden stört.

STANDARD: Sie sind meiner Frage nach dem Fußballklub ausgewichen, in dem Sie gelandet wären als Karrierekicker.

Rachlin: Meine Lieblingsklubs sind Rapid und der FC Barcelona. Aber der hätte mich nie genommen. Ich war zwar technisch ganz gut, aber nie schnell genug. Ich wäre wahrscheinlich in irgendeiner achten Liga in Österreich gelandet. Auch nicht schlecht. In meiner Kindheit war Hans Krankl mein Idol, und Maradona. Ich selbst hatte Probetrainings beim Post SV und beim Wiener Sport-Club. Die hätten mich genommen.

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Hans Krankl (oben) bei der Champions League im März 1984 im Hanappi-Stadion in Wien. Rapid Wien siegte 2:1 gegen Dundee United; das zweite Tor gegen die Schotten machte Zlatko Kranjčar. Rapid-Trainer war damals Otto Barić.
Foto: Votava / Imagno / picturedesk.com

STANDARD: Als Sie 1977 nach Wien kamen, landeten Sie und Ihre Eltern, die mit 300 Dollar in der Tasche und ohne Job nach Österreich gekommen waren, zunächst in einer Kellerwohnung …

Rachlin: Ja, in einer feinen Gegend von Grinzing. Wir wussten nicht, ob es Tag oder Nacht ist. Hier im ersten Bezirk, wo meine Frau und ich jetzt wohnen, sind die Leute manchmal sehr unfreundlich, man muss sich durchgraben, bis man in ihre Seele hineinkommt. Wenn man aber den Dreh raushat, dann sind sie wunderbar, die Wiener.

STANDARD: Wie kommen Sie mit dem Unverbindlichen, dem Drüberschummeln der Wiener zurecht, dem "Mach ma schon", dem "Schau ma amal"?

Rachlin: Dieses ein bisschen Ungenaue, von dem Sie reden, hat auch seine schönen Seiten.

STANDARD: Das sagen Sie als Perfektionist?

Rachlin: Perfektion, Disziplin, Rhythmus, Puls, Intonation auf der Violine, Struktur des Werks: Für all das ist Perfektion unerlässlich, aber in der Interpretation muss Raum sein für den Moment, muss Raum sein, weil es drauf ankommt, was zwischen den Noten steht. Und dieses musikalische Gefühl, das kriegt man in Wien so gut vermittelt wie in kaum einer anderen Stadt. Denn hier waren sie alle daheim, Beethoven und wie sie alle heißen. Hier gingen sie durch die Straßen, hier haben sie sich angesoffen, hier haben sie ihre ganzen Verrücktheiten ausgelebt wie Mozart, den sein Vater für seine Frauengeschichten und sein lockeres Leben geschimpft hat. Hier wurde das alles gelebt, hier entstand die Musik, und alle Komponisten zog es wie magnetisch nach Wien, sie mussten alle hierherkommen. Das ist bis heute der Fall. Wien ist der Traum jedes Musikers. In Wien liegt irgendetwas in der Luft – auch dieses Nicht-ganz-Genaue.

STANDARD: Die Stadt hat die klassische Musik in ihren Genen?

Rachlin: Auf jeden Fall hat Wien hat das gewisse Etwas, das Je-ne-sais-quoi.

STANDARD: Sie sagten vorhin, bestimmte Stücke spiele man nicht mehr, wenn man älter wird. Was werden Sie denn im Alter nicht mehr spielen?

Rachlin: Ein Paganini-Violinkonzert, einen Brahms, einen Sibelius werden Sie von mir dann nicht mehr hören.

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Eine Statue von Napoleon I., der den italienischen "Teufelsgeiger" Niccolò Paganini nie persönlich traf. Außer im Film "Napoleon".
Foto: Reuters/Meyssonnier

STANDARD: Den "Teufelsgeiger Paganini" haben Sie im ZDF-Vierteiler "Napoleon" gespielt, den Gérard Depardieu mitproduziert hat.

Rachlin: Ja, aber das war eine geschichtliche Verzerrung: Paganini hat Napoleon nie getroffen. Aber Depardieu wollte unbedingt, dass ich mitspiele, und ich wollte auch.

STANDARD: Bei James Bond haben Sie nicht mitgespielt. Mit Roger Moore waren Sie aber befreundet, wie kam’s dazu?

Rachlin: Er war bei einem Fundraising-Konzert. Meine Mutter war am Klavier und sagte während des Konzerts zu mir: "Ich glaub, der James Bond sitzt neben dem Elton John im Publikum." Ich sagte: "Mama, du bist sehr aufgeregt, das bildest du dir ein. Es ist ein tolles Event, und alle sind im Frack, aber es sitzt sicher nicht James Bond neben Elton John." Sie hatte aber recht. Roger war ein wunderbarer Mensch, mit Tiefgang und Leichtigkeit. Er hatte bis zum Schluss dieses Feuer in den Augen. Er hat das Leben geliebt.

STANDARD: Wenn man so intensiv lebt und so früh Karriere macht wie Sie: Altert man da schneller?

Rachlin: Glaube ich nicht. Innerlich bin ich ziemlich Kind geblieben, das lass ich mir nicht nehmen. Meine Lebensenergie ist groß wie immer, ich bin gern auf der ganzen Welt unterwegs, liebe das Abenteuer.

STANDARD: Sie dirigieren jetzt immer mehr. Ist Ihnen das Dirigieren auch ein Abenteuer?

Rachlin: Ein unfassbares Abenteuer und ein neues Universum für mich. Sie müssen sich vorstellen: Da ist ein Orchester, in dem jeder jede Beethoven-Symphonie schon gefühlte 300-mal gespielt hat. Dann kommt ein junger Dirigent, der ein bekannter Geiger ist, und stellt sich vorne hin. Da schauen mich dann 60 bis 100 Leute an und denken: "Der soll bei seiner Geige bleiben und nicht mir erzählen, wie ich eine Beethoven-Symphonie zu spielen habe."

STANDARD: Das Orchester: Ihr Angstgegner?

Rachlin: Am Anfang ja. Bei der ersten Probe haben Sie genau 30 Sekunden bis zwei Minuten Zeit, und dann macht das Orchester so oder so. (zeigt Daumen rauf, Daumen runter)

"Ab 2023 gibt es mich auch als Operndirigenten", sagt Rachlin, der künftig 60 Prozent seiner Arbeitszeit fürs Dirigieren verwenden will.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Was machen Sie in diesen zwei Minuten?

Rachlin: Die Musiker davon überzeugen, dass sie auf die Reise mitkommen wollen, auf die ich sie als Dirigent einlade, eine Reise durch ein Meisterwerk. Die gelingt nur, wenn das Orchester den Dirigenten akzeptiert und ihm vertraut. Damit das klappt, muss man bestens vorbereitet und qualifiziert sein, denn das Dirigieren ist ein völlig anderes Handwerk als das Geigespielen, ein Beruf, der jahrelang, jahrzehntelang gelernt werden muss. Auch die Technik: Jeder Muskel, jede Bewegung, die Körpersprache, die Schlagtechnik, alles muss von der Pike auf erlernt werden.

STANDARD: Welche Eigenschaft darf ein Dirigent gar nicht haben?

Rachlin: Er darf nie einen Musiker persönlich beleidigen, egal wie sehr er provoziert wird. Kein böses Wort vor dem Orchester. Das hat mir mein Vater mitgegeben.

STANDARD: Er war sehr lang bei den Niederösterreichischen Tonkünstlern Cellist …

Rachlin: Und davor bei der Philharmonie in Litauen, und er hat ganz hinten begonnen, letztes Pult. Als ich in Wien ins Musikgymnasium kam, war ich schon bekannt. Da kamen die Kinder der Philharmoniker und haben sich vorgestellt bei mir: "Hallo, ich bin der Soundso, ich bin Philharmonikersohn." Und ich habe gesagt: "Hallo, ich bin Julian, ich bin Tonkünstlersohn." So hab ich dem den Mittelfinger gezeigt. Ist das ein Beruf, Philharmonikersohn?

STANDARD: In Wien schon.

Rachlin: Ja, und ich kann Ihnen sagen, die Tonkünstler sind ein großartiges Orchester, und ich war immer sehr stolz, ein Tonkünstlersohn zu sein. Wenn ich dirigiere, habe ich den gleichen Respekt vor dem letzten Pult wie vor dem ersten mit den allerbesten Musikern. Nicht nur, weil es menschlich selbstverständlich ist, sondern auch aus musikalischer Sicht. Ich habe da eine Fantasie: Ich würde die allerbesten Spieler ans erste und ans letzte Pult setzen, denn dann hätten das zweite und dritte Pult dazwischen den Druck, auch so gut zu spielen – und das ergäbe eine tolle Dynamik.

STANDARD: Mir tun die hinten im Orchester immer ein bisserl leid, weil der Dirigent nur dem Ersten Geiger und den Musikern vorne die Hand gibt.

Rachlin: Ich würde am liebsten allen die Hand geben.

STANDARD: Sie sagen: Der Dirigent stirbt auf der Bühne. Warum werden Dirigenten eigentlich so alt?

Rachlin: Ich kenne keine Studie, die das belegt. Aber vielleicht führen Dirigenten ein gesünderes Leben als Solisten. Orchester feiern gern nach dem Konzert und nehmen den Solisten sehr gern mit. Sie bewundern ihn, sind ein bisschen eifersüchtig, aber verzeihen ihm letztlich, dass er mehr verdient als sie. Er ist doch einer der ihren: Er spielt ein Instrument. Aber der Dirigent? Fuchtelt nur herum, sagt das Orchester und nimmt ihn nicht mit. Der Dirigent darf auch gar nicht zu eng mit dem Orchester sein, denn wenn er zu wenig Distanz hat, zerfällt das Ganze.

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Dirigent und Geiger Sir Neville Marriner, Gründer der Academy of St. Martin in the Fields, starb 2016 mit 92 Jahren – kurz bevor er ein Konzert im Wiener Musikverein dirigieren sollte. Sein Orchester spielte das Konzert in memoriam seines Dirigenten – ohne Dirigenten. Hier verleiht ihm Prince William ein Ehrenzeichen.
Foto: AP/Anthony Devlin

STANDARD: Dirigieren Sie mit oder ohne?

Rachlin: Ich dirigiere mit.

STANDARD: Die Frage, ob man mit oder ohne Taktstock dirigiert, ist wie die Frage: Frucade oder Eierlikör?

Rachlin: Ja! Die Frage aus Phettbergs großartiger Show. Ich mag ja auch Stermann & Grissemann sehr.

STANDARD: Die können herrlich böse sein, finde ich als Wienerin.

Rachlin: Sehen Sie! Das gehört schon zum Wienerischen, das Böse. Meiner Frau, die aus Kanada kommt, muss ich das noch erklären. Wenn wir mit unserem kleinen Hund auf dem Graben spazieren gehen – und wir halten ihn kurz an der Leine und der Graben ist breit, oder? –, kommt oft wer entgegen und sagt: "Na wos, soll i jetzt drüberspringen?" Dann schau ich dem tief in die Augen und sage: "Genau das ist der Plan, das sollten wir jetzt versuchen. Ich halte die Leine, und Sie springen drüber. Weil: Es gibt ja hier keinen Platz." Das versteht der Wiener dann.

Rachlin mit seinem Hund Rupi, über dessen Leine grantige Wiener springen sollen.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Welches Konzert hätten Sie denn besser nie gegeben?

Rachlin: Ich habe bei Konzerten mitgemacht, bei denen eine kleine, zusammengewürfelte Gruppe sehr berühmter Künstler gespielt hat. Das mach ich nicht mehr. Stellen Sie sich eine Mannschaft vor, die nur aus Maradonas, Ronaldos und Messis besteht. Das wird ein Desaster, ziemlich sicher.

STANDARD: Letzte Frage: Worum geht’s im Leben?

Rachlin: Um Liebe.

(Renate Graber, 31.7.2021)