Die afghanische Armee versucht derzeit mit letzten Kräften den Vormarsch der Taliban zu stoppen.

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Kabul – Die afghanische Regierung steht einem US-Behördenbericht zufolge wegen zunehmender Angriffe der Taliban vor einer "existenziellen Krise". Laut einem am Donnerstag veröffentlichten Bericht der US-Generalinspektion für den Wiederaufbau Afghanistans (Sigar) hat sich die Zahl der Taliban-Angriffe sei dem Abkommen von Doha über einen US-Truppenabzug verdoppelt. Derzeit kämpft der Osten des Landes zudem mit heftigen Überschwemmungen. Nach Sturzfluten in der Nacht auf Donnerstag im Bezirk Kamdesch in der Provinz Nuristan seien mindestens 35 Leichen geborgen worden, sagte der Chef des Provinzrats, Saidullah Nuristani. Die Zahl der Opfer könnte laut ihm auf 150 oder mehr steigen.

Laut der UN-Agentur zur Koordinierung humanitärer Hilfe (Ocha) haben der jahrzehntelange Konflikt im Land, eine anhaltende Zerstörung der Umwelt und unzureichende Strategien zur Katastrophenvorsorge dazu beigetragen, dass Afghaninnen und Afghanen immer schwerer unter plötzlichen Naturkatastrophen leiden. Im Durchschnitt seien in dem kriegszerrissenen Land jedes Jahr 200.000 Menschen von Naturkatastrophen betroffen. Besonders schwere Überschwemmungen hatte es im August des Vorjahrs gegeben. Binnen weniger Tage starben mehr als 150 Menschen in 13 von Fluten betroffenen Provinzen.

Behördenvertreter sagten weiter, dass zwischen 60 und 80 Häuser teils oder komplett sowie zwei Autobrücken durch die Fluten zerstört worden seien. Menschen aus den Nachbardörfern würden nun nach weiteren Opfern suchen. Das Gebiet werde von den Taliban kontrolliert, und Regierungsvertreter hätten keinen Zutritt. Man versuche nun, durch Verhandlungen über neutrale Organisationen Hilfe zu schicken.

Mehr Angriffe, mehr Tote

Zugleich kämpft das Land mit einem eskalierenden Krieg gegen die radikalislamischen Taliban. Laut dem Sigar-Bericht stieg die Zahl der von den Taliban verübten Angriffe von 6.700 in einem Dreimonatszeitraum Anfang 2020 auf 13.242 zwischen September und November vergangenen Jahres. Seither liege die Zahl in jedem folgenden Dreimonatszeitraum bei mehr als 10.000.

Auch die Zahl der Todesopfer nahm deutlich zu: Zwischen Jänner und März 2020 wurden laut dem Bericht 510 Zivilisten getötet. Im dritten Quartal 2020 stieg diese Zahl auf 1.058. Die jüngsten Daten zeigten allein für April und Mai dieses Jahres 705 zivile Todesopfer.

Die afghanische Regierung stehe vor einer "existenziellen Krise", wenn dieser Trend nicht umgekehrt werde, sagte der Generalinspekteur John Sopko. Im Gegensatz zum "verbreiteten Überoptimismus" biete der Bericht ein ernüchterndes Bild. "Die Nachrichten, die in diesem Quartal aus Afghanistan kommen, sind düster", fasst der Bericht zusammen.

Die Regierung des damaligen US-Präsidenten Donald Trump hatte im Februar 2020 in Doha ein Abkommen mit den Taliban geschlossen, um den längsten Kriegseinsatz der US-Geschichte zu beenden. Dabei setzten die USA auf Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung. Diese Gespräche blieben jedoch bis heute ohne greifbares Ergebnis, während die USA ihren Truppenabzug planmäßig starteten und bis Ende August abschließen wollen. Gleichzeitig gingen die Islamisten in die Offensive.

Taliban auf Vormarsch

Parallel zum rasch fortschreitenden Abzug der US- und anderer Nato-Truppen aus Afghanistan hatten die Taliban in den vergangenen Monaten große Teile des Landes erobert. Die afghanische Armee sei "überrascht und unvorbereitet" gewesen und befinde sich jetzt in der Defensive, hieß es in dem Bericht. Besonders besorgniserregend sei das Tempo, mit dem die Aufständischen auch Provinzen im Norden des Landes eingenommen hätten, traditionell eine Hochburg von Taliban-Gegnern.

Mittlerweile kontrollieren die Islamisten rund die Hälfte der etwa 400 Bezirke Afghanistans. Beobachter befürchten, dass die Taliban nach dem vollständigen Abzug der internationalen Truppen wieder vollends die Macht am Hindukusch übernehmen könnten. Indes sind seit dem Abzug verstärkte Flüchtlingsbewegungen aus Afghanistan in Richtung Nachbarregionen und Europa zu verzeichnen. (APA, 29.7.2021)