Wie spannend es sein kann, wenn eine südafrikanische Choreografin den europäischen Ballettkanon ins Visier nimmt, zeigt Dada Masilos "The Sacrifice".

Foto: John Hogg

Tatsächlich lassen sich die südafrikanische Choreografin Dada Masilo und Isadora Duncan, die amerikanische Pionierin der Tanzmoderne, miteinander vergleichen! Und das, obwohl Masilo ganze 108 Jahre nach Duncan (1877–1927) geboren wurde, obwohl beide von unterschiedlichen Kulturzusammenhängen geprägt sind und obwohl das Werk der Älteren verloren ist, während das der Jüngeren jetzt gerade Furore macht.

Was diese Künstlerinnen miteinander verbindet, ist erstens ihr von Veränderungswillen befeuertes Gespür für historische Kunst und zweitens die Idee, dass der Tanz eine Gesellschaft weiterbringen kann.

Isadora Duncan hat sich Ende des 19. Jahrhunderts gegen das beim damaligen Kulturestablishment quasi monopolhafte Ballett aufgelehnt, und Dada Masilo widerspricht unserer global dominanten westlichen Kunstideologie. Der Mittwochabend bei Impulstanz hat den Vergleich ermöglicht, und Dada Masilos Uraufführung The Sacrifice ist sogar noch bis Samstag zu sehen.

"Körper" der Geschichte

Im Gegenwartstanz nehmen künstlerische Untersuchungen am "Körper" der Geschichte gerade wieder an Fahrt auf. Dafür liefert das das aktuelle Festival mehrere Belege. Bereits über die Bühne gegangen ist der Abend "Kosmos Wiener Tanzmoderne", an dem zeitgenössische Tänzerinnen Arbeiten wichtiger lokaler Choreografinnen aus den 1920er- und 1930er-Jahren neu interpretiert haben.

In Ergänzung wird die Wienerin Eva-Maria Schaller kommenden Samstag an die österreichische Tanzschaffende und NS-Widerständlerin Hanna Berger erinnern. Weiters gastiert der Belgier Michiel Vandevelde mit seiner Bearbeitung eines Solowerks von Steve Paxton, einem Avantgardisten des postmodernen Tanzes. Und eine Gruppe um den Künstler Peter Kutin präsentiert ein performatives Denkmal für die slowenische Tänzerin und Partisanin Marta Paulin.

Wie bei Duncan und Masilo geht es auch in diesen Arbeiten darum, wie wir uns heute in den komplizierten Netzen der Geschichte verorten. Für die Performance Isadora Duncan ist Jérôme Bel, ein Mastermind der französischen Choreografie, verantwortlich. Ihm geht es einerseits um einen neuen Blick auf Duncans avantgardistische Leistung und andererseits um die Ökologisierung des Kunstbetriebs.

Mit ihrem emotionalen und reflektierten neuen Stück zeigt Dada Masilo einmal mehr, wie spannend es sein kann, wenn eine Choreografin mit außereuropäischem Blick sich mit Werken aus unserem Ballettkanon befasst. Sie lässt deutlich spüren, wie sehr ihr Tanz The Sacrifice auf Igor Strawinskys und Vaslav Nijinskys Le sacre du printemps (1913) bezogen ist.

Perspektivwechsel

Doch der Clou dabei ist: Weil Masilo Strawinskys archaisches Opfermotiv – das sich, aus der Perspektive des frühen 20. Jahrhunderts, auf alte russische Stammesbräuche bezieht – in afrikanische Zusammenhänge transferiert, verwandelt sie es in ein Thema von heute.

Denn was "zeitgenössisch" ist, wird immer weniger von der westlichen Kulturindustrie definiert. Mit gutem Grund, denn diese Industrie hat sich großteils zum Anhängsel der ökonomischen Globalisierung degradiert. Ihr schlechtes Gewissen kompensiert sie nun durch einen kruden Moralismus.

Dada Masilo verzichtet auf den moralisierende Tunnelblick. Stattdessen hält sie sich an eine so sinnliche wie kritische Auffassung von Tanz. Seit Beginn ihrer Erfolgsgeschichte setzt sie auf die Wirkung eines Perspektivwechsels, der von ihrem Publikum auch jetzt wieder mit Standing Ovations quittiert wird. Elf Tänzerinnen und Tänzer, drei Musiker und die Sängerin bewegen sich tief in die Geheimnisse menschlicher Gemeinschaftsbildung. Dabei zeigen sich deren Widersprüche zwischen Lust am Zusammensein und der Bedrohung durch zerstörerische Ausbrüche.

Eine Auflösung dieses Konflikts haben wir bis jetzt nicht geschafft. Die Moderne ist bekanntlich mit ihrem Versuch der radikalen Vereinfachung gescheitert. Heute wird auf Vielfalt und Komplexität gesetzt. Das zeigt auch The Sacrifice – mit bewundernswerter Klarheit. (Helmut Ploebst, 30.7.2021)