Bild nicht mehr verfügbar.

"Ich bin ja ein unverbesserlicher Tagebuchschreiber und Ich-Chronist": Paul Nizon.

Foto: Foto: Picturedesk / Marko Lipus

Das Alter ist des Teufels und arrogantes Rundumschreien natürlich keine Abhilfe. Es ist die Verengung des Lebensausschnitts, das Schrumpfen der Bühne und auf krasse Weise der Zukunft". Kann einer, der den 90. Geburtstag hinter sich liegen hat und solche Sätze schreibt, Autor eines Buches sein, das vor Weltaufgeschlossenheit und Lebenszugewandtheit strotzt? Er kann, wenn er Paul Nizon heißt.

Der Nagel im Kopf heißt der soeben bei Suhrkamp erschienene neue Band von Nizons "Journal", das über die Jahrzehnte hin auf abertausende Seiten angewachsen ist und im Œuvre des Schriftstellers einen bedeutenden Rang einnimmt. Die Aufzeichnungen aus den Jahren 2011 bis 2020, benannt nach einem Romanprojekt, das Nizon unablässig beschäftigt, aber noch nicht realisiert wurde, repräsentieren nur einen schmalen Ausschnitt dessen, was er in diesem Jahrzehnt zu Papier gebracht hat. Gleichwohl fügt sich der knappe Ausschnitt – ein Best-of wäre die zu modisch-saloppe Formulierung – zu einem dichten und hochkomplexen Portrait of the Artist as an Old Man.

Paul Nizon: Gebürtiger Schweizer, 1929 in Bern zur Welt gekommen, Wahlfranzose und vor allem Wahlpariser, ein mit zahllosen literarischen Ehren, darunter dem Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur Ausgezeichneter, guter Spezi von "unserem" Nobelpreisträger Peter Handke, selbst immer wieder einmal für den Nobelpreis im Gespräch, anerkannter Bewohner der obersten Etage des Literatenturms, wo nur wenige zu Hause sind und dem schriftstellerischen "Midcult", wie ihn der Germanist Moritz Baßler diese Woche in dieser Zeitung treffend charakterisiert hat, der Eintritt verwehrt bleibt. Und: Nizon ist ein Prophet, der in seinem eigenen Land, dem deutschen Sprachraum, lange nur wenig bekannt war und erst spät von zu wenigen "happy few" adäquat gewürdigt wurde und gewürdigt wird. Es ist dies ein Schicksal, das er mit seinem Mentor Elias Canetti teilt: "Wie Canetti lange nur die englische Anerkennung oder Hochachtung genoss, so ich die französische. Hier bin ich kein Geheimtipp." Einen "Verzauberer, den zurzeit größten Magier der deutschen Sprache" nannte ihn Le Monde einmal.

Prüfender Rückblick

Naturgemäß, ist man versucht zu formulieren, ist der prüfende Rückblick auf den eigenen Lebensverlauf, das Bilanzziehen, ein naheliegender Bestandteil eines Alterswerks, wie es Der Nagel im Kopf eines ist. Im Falle Nizons, der unter seinem Wahlspruch "Es gilt ein Leben zu gewinnen oder zu verlieren" angetreten war und den Erfolg oder Misserfolg seiner Existenz ausschließlich an seiner Tätigkeit als Schriftsteller bemessen haben wollte, erscheint dieses Bilanzziehen, erscheinen die Versuche, sich dessen bewusst zu werden, was von ihm zu leisten war und was ihn dabei von anderen unterschied, von besonderer Bedeutung und Dringlichkeit.

Vergleiche mit dem Schaffen von Kollegen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse ziehen sich wie ein roter Faden durch Nizons "Journal"-Reihe. "Ich schrieb wie (Robert) Walser am immer selben Roman in der Selbstabbildungsakribie und -neugierde." "Sicherlich bin ich aus der deutschsprachigen Literatur nicht mehr wegzudenken; das dürfte auch für den französischsprachigen Raum gelten. Ansonsten dürfte nach meinem Ableben meine Stimme in der Welt vorläufig kaum mehr hörbar sein, keine streitbare Stimme, die Skandale auslöst wie die von Thomas Bernhard und keine ins Fach der Jahrhundertvermächtnisse gehörende wie die Handkes."

"Ich bin ja ein unverbesserlicher Tagebuchschreiber und Ich-Chronist, das ist wohl auch das Grundmuster meiner Romane, und diesbezüglich gehöre ich in die Linie von Thomas Wolfe (Schau heimwärts, Engel) und Malcolm Lowry (Unter dem Vulkan) und, was Paris und den Eros und den ganzen weiblichen Kontinent anbetrifft, Henry Miller. Außerdem ist mir auch Kafka nahe, der selber in nächster Nähe von Goethe wohnt."

Die Abwesenheit eines konventionellen Narrationsgeschehens in Nizons Werk ist gewiss ein Hauptgrund, welcher den Umfang seines Leserkreises limitiert und ihm den Ruf eines Schriftstellerschriftstellers eingebracht hat. Anders als der Typus des "geborenen Erzählers" ist Nizon ein geborener Nichterzähler oder vielleicht auch kein geborener, sondern ein, wie er vermutet, aufgrund seiner schwierigen, von Verheimlichung und Scham geprägten Beziehung zu seinem Vater zu einem Nichterzähler Gewordener. "Stattdessen die Introspektion, die Abwendung von der Außenwelt und von sozialem Geschehen zugunsten der Selbstdurchleuchtung. Statt Handlung das Belauschen des eigenen Bewusstseinsstroms und die dazugehörige Isolierung. Das Selbstgericht."

Den Eitelkeitsvorwurf, der bei einer solchen Art des Schreibens quasi immer mit im Raum steht, wischt Nizon, einst in jungen Jahren leitender Kunstkritiker bei der NZZ, mit einem bemerkenswerten Verweis über die literarische Gattungsgrenze hinaus vom Tisch: "Ja, natürlich zähle ich zu den Selbstabbildnern, (...) aber ist denn in der bildenden Kunst das Selbstporträt nicht ein gängiges, gewöhnliches Motiv wie die Landschaft oder das Blumenstück, was wäre Rembrandt ohne Selbstbildnis oder Vincent van Gogh?"

Ureigenstes Terrain

Wo sich Nizon auf seinem ureigensten schreiberischen Terrain bewegt, da tut es ihm keiner und keine gleich. Sein achteinhalb Druckseiten umfassender "Pariser Lebenslauf" von November 2014 ist ein Triumphmarsch in Prosa, wie es ihn nirgendwo anders zu hören gibt, und die flamboyanteste Liebeserklärung an eine Stadt, die mitbestimmend für sein Lebensschicksal wurde: "Paris war die in der versteinerten Artikulation dargebotene Versichtbarung nicht nur der französischen Vergangenheit, sondern der Weltgeschichte; und in der Luft, im hellsten Himmel der Welt, der Geisterchor der schöpferischen Geister, die hier zusammengekommen waren und die die Stadt entbunden und zu ihren kühnsten Taten angeleitet hatte. Herausforderung."

Nicht zuletzt zeigt sich Nizons Rang in der Großzügigkeit, mit der er Künstlerkollegen würdigt, John Irving etwa, vermutlich der Schriftsteller, den man mit Nizon zuallerletzt in Verbindung bringen würde, Amy Winehouse, Georges Brassens oder Marie-Luise Scherer, die Nizon nicht in das "Laufgitter" einer "Spitzenreporterin von Reportagen" eingesperrt, sondern als bedeutende Prosaautorin verstanden haben möchte. Die ganz wenigen schwachen Passagen dieses Buches sind bezeichnenderweise jene, die sich ohne dazwischengeschaltete Instanz eines sich skeptisch bewussten Ich auf politische Aktualitäten beziehen, und wie etwa im Falle der Gilets Jaunes, nur wenig originelle Einsichten bieten: "Die Zerstörungswut richtet sich (...) gegen das verfluchte neoliberale, zum Himmel schreiende System." Gegen den Reichtum des Buches wiegt dies nichts.

Und all die Schrecknisse des hohen Alters, was ist mit ihnen? Die Traurigkeit, die Depression, die "exzessiven Einsamkeitsanfälle"? Die Todesfälle, das unaufhaltsame "Ausdünnen meiner Generation"? Nizon verschweigt seine Schmerzen nicht, aber er schwelgt nicht in ihnen, er hält sie hintan. Er hat den besten Grund dafür, dieses zu tun. Hinter dem Schmerz ist immer noch das Wichtigste, das Leben, an dem er "mit tausend Näpfen hängt". (ALBUM, Christoph Winder, 31.7.2021)