In einem wunderschön blassgrünen Kaftan empfängt Ilse Helbich ihren Besuch im Innenhofgarten in Schönberg am Kamp. Gerade hat sie einige Drehtage mit einem Arte-Filmteam hinter sich. Am Ende der Woche kommt sie eine ihrer Enkelinnen mit dem erst vier Wochen alten Baby besuchen, ihr dritter Urenkel. Dann macht sie erst einmal Urlaub in der Steiermark in einem Naturpark-Gebiet, das erzählt sie nach dem Interview bei Kaffee und Kuchen in ihrem schönen Haus. Ilse Helbich, die erst als 80-Jährige mit ihrem Roman Schwalbenschrift debütiert hat, ist ein Phänomen. Kein Wunder, dass der Droschl-Verlag die heute 98-Jährige für Gedankenspiele über die Gelassenheit ausgesucht hat. Ein Glücksfall.

Standard: Sie schreiben, dass Sie nicht wissen, wie Sie "in diesen heiteren Zustand der Gelassenheit" geraten sind. Ich bin überzeugt, dass Sie im Laufe Ihres Lebens trotzdem Rezepte generiert haben, wie man da möglicherweise hinkommt.

Helbich: Ich kann nur sagen, wie es mir passiert ist, und eigentlich kann ich es auch nicht (lacht). Sie müssen wissen, dass ich keine festen Meinungen mehr habe. Ich bin sehr alt, und es kann sein, dass ich in einer Woche etwas anderes sage. Heute würde ich sagen, dass die Gelassenheit bei mir ein Zustand ist, in den ich hineingleite. Fallweise ist es auch ein willentlich angenommener Zustand. Wenn ich merke, dass ich mich über etwas ärgere, kann ich die Gelassenheit wie eine Rüstung überziehen. Ich vermag es heute besser, die Dinge aus einer Distanz zu betrachten, um mich selbst aus dem Spiel zu nehmen. Das ist ein Rezept. Aber es gibt auch Momente, in denen mich die Gelassenheit verlässt, aber ich komme schneller als früher wieder hinein.

Standard: Sie haben sich über die Jahre mit Dingen beschäftigt, die Ihrer Gelassenheit zuträglich waren. Wer waren Ihre Meisterinnen oder Meister der Gelassenheit?

Helbich: Das ist eine Frage, über die ich noch nie nachgedacht habe. Mir fallen spontan zwei Herren in meiner Vätergeneration ein, die mir großen Eindruck gemacht haben. Der eine war ein Meteorologe westfälischen Ursprungs, der ein sehr abenteuerliches Leben und diese wirklich lächelnde Gelassenheit hatte. Als junges Geschöpf habe ich diesen Mann wirklich bewundert. Der andere war ein Vorarlberger Bauernsohn, der dann Diplomarchitekt wurde, sich sehr für Kunst interessiert hat. Der hatte eine ähnliche Ausstrahlung. Meine Familie hatte die nicht (lacht). Da gab es keine Gelassenheit. Ich kannte auch David Steindl-Rast, weil wir uns schon in der Schule begegnet sind, ein später sehr gesuchter Guru. Ein Benediktiner-Mönch, aber kein Priester, der sich viel mit Buddhismus beschäftigt hat. Früher, als ich noch für Zeitungen berichterstattet habe, habe ich ihn öfter getroffen. Der hat etwa bei Kongressen in äußerst kritischen Situationen einen ungeheuren Abstand zu den kämpferischen Situationen um ihn herum bewiesen.

Standard: Dann ist Ihre Beschäftigung mit dem Buddhismus eigentlich über Ihre Arbeit als Journalistin passiert?

Helbich: Das geht jetzt über mein Autorinnendasein hinaus. Ich habe zur Meditation einen ganz natürlichen Zugang, seit ich ein junges Mädchen war. Wir hatten für die Baufirma meines Vaters Zugpferde. Am Abend standen diese Pferde im Stall. Die Kutscher haben sie gefüttert, sobald die weg waren, habe ich mich nach unseren wilden Bauplatzspielen allein von der Haferkiste auf ein sehr hohes Fenstersims geschwungen. Ich bin dort lange gesessen und habe den Pferden einfach beim Fressen zugeschaut. Alles war ganz ruhig. Als ich später mit dem Zen-buddhistischen Sitzen begonnen habe, habe ich mir gedacht: Warum machen die so ein Wasser aus der Sache? Ich habe schon immer gewusst, dass es das gibt. Dieses Gefühl, körperlich ganz bei sich zu sein und gleichzeitig einen unerhörten Frieden in sich zu finden. Mittlerweile habe ich meine eigene Form entwickelt, die mir sehr dient.

Die Autorin Ilse Helbich beim Rundgang durch ihren prächtigen Garten: "Jetzt bin ich dreißig Jahre hier, ich war auch immer wieder krank und schwerkrank, aber über allem liegt das gelassene Gefühl: Hier kann mir nichts passieren."
Foto: Mia Eidlhuber

Standard: Wie und wo meditieren Sie heute?

Helbich: Zweimal am Tag mache ich das. Ich sitze nicht mehr am Boden, nicht mehr auf einem Hocker, ich sitze in einem Lehnsessel, versuche aber schon, mich aufzurichten. Ich bin also um eine gewisse Haltung bemüht, hänge mein Sauerstoffgerät an, damit das auch erledigt ist, und dann lasse ich mich gehen, aber mit einem gewissen Bemühen. Es ist kein Ausrasten. Ich gehe ganz bewusst in die Gelassenheit hinein.

Standard: Wenn man sich Sie als junges Mädchen in diesem Pferdestall vorstellt, dann kann man sagen, dass Sie ein gelassenes Kind waren. Das hat ja auch eine Doppelbedeutung.

Helbich: Ich wurde tatsächlich in Ruhe gelassen, einmal, weil meine Eltern sich nicht wirklich um ihre Kinder gekümmert haben. Wir hatten Narrenfreiheit. Und ich hatte noch mehr Narrenfreiheit, weil ich kein Bub war. Ich durfte machen, was ich wollte. Durfte studieren, was ich wollte. Einfach weil ich nicht so wichtig war.

Standard: War das eine bittere Freiheit?

Helbich: Ja, das war eine bittere Freiheit. Ich hätte mir gewünscht, dass man sich mehr um mich kümmert. Meine Gelassenheit war vielleicht nicht ganz freiwillig.

Standard: Es gibt ein eindringliches Erlebnis, das Sie im Buch schildern: ein Sturz, bei dem Sie sich tief einen Holzspan einziehen. Die Stelle schmerzt sogar beim Lesen.

Helbich: Ich habe den Spahn heute noch in mir und warte, dass er bei einem Röntgenbild einmal auftaucht (lacht). Er könnte sich auch aufgelöst haben, aber vielleicht wird er eines Tages wie ein Dolch in mein Herz bohren. Es ist ein tolles Lebensgefühl, eine Bedrohung von innen.

Standard: Beim Lesen dachte ich sofort daran, dass Verletzungen auch zu einem gehören.

Helbich: Ich habe immer das Gefühl, dass das wie ein Schatten in mir ist. Damals hatte ich noch keine echte Gelassenheit, es war eher ein bewusstes Abgrenzen von der Außen- und Beziehungswelt, auch mit einem gewissen Zynismus verbunden. Ich glaube, dass viele Kinder in ihrer Lebensauffassung viel tragischer sind, als wir denken. Ich habe als Gegenreaktion niemanden in meine Welt gelassen: Ihr lasst mich im Stich, ich lasse euch im Stich.

Standard: Weil Sie vom Schatten in sich sprechen: Gibt es eine Schattenseite Ihrer Altersgelassenheit? Was macht Sie heute explizit wütend?

Helbich: Mich macht wütend, wenn meine Umgebung mir zu nahe kommt. Eine 24-Stunden-Betreuung ist für mich etwas Unnatürliches. Ich habe jemanden um mich, der es gut meint und der lieb ist, aber eigentlich mit mir als Person nichts zu tun hat und auch nichts zu tun haben will. Meine Betreuerinnen wissen nichts von meiner Schreibseite, wollen auch nichts wissen. In solchen Situationen werde ich manchmal wütend. Aber ich spreche immer alles sofort an, und so eine Gefühlssituation dreht sich dann um.

Standard: Gibt es auch im Außen etwas, das Sie aufregt?

Helbich: Manche politischen Sachen ärgern mich sehr. Früher bin ich auf vielen Friedensmärschen mitmarschiert, und das war mir auch immer wichtig. Wenn ich das Gefühl habe, dass etwas nicht richtig ist, dann werde ich heute noch aktiv. Ich würde jede Initiative für die Gleichstellung von Frauen sofort unterstützen. Ich würde in meinem Alter nichts mehr anzünden, aber immer noch mitgehen.

Standard: Es ist möglicherweise auch ein Klischee, aber Frauen tendieren dazu, die Schuld bei sich selbst zu suchen. Waren Sie je wütend auf sich selbst?

Helbich: Was mir spät schmerzlich bewusst geworden ist, ist, wie sehr ich als Frau bei meiner eigenen Einschränkung und Unterdrückung mitgespielt habe. Diese eigene Blindheit ist mir erst im Nachhinein bewusst geworden. Ich habe keine Schuldgefühle, auch nie welche gehabt, aber ich hätte mir viel ersparen können, wenn ich bei meiner Heirat mit einem mittellosen Mann nicht meine gut bezahlte Verlagsstelle aufgegeben hätte, bloß weil das in gutbürgerlichen Kreisen so üblich war. Eine Frau, die verheiratet ist, hatte keinen Beruf. Heute finde ich das saudumm. Ich habe in meiner Ehe Einschränkungen in Kauf genommen, weil der Mann sich verwirklicht hat und ich ihn als Frau unterstützt habe.

Standard: Hat Ihre Altersgelassenheit etwas mit Disziplin zu tun?

Helbich: Das weiß ich gar nicht. Vielleicht hat es mit dem Gegenteil zu tun (lacht). Für mich ist die Altersgelassenheit, das habe ich geschrieben, etwas, das einen Grund haben muss. Ich habe das als "Sekundärtugend" bezeichnet. Es hat damit zu tun, dass man sich irgendwo so geborgen fühlt, dass man gar keinen Grund hat, sich aufzuregen. Es hat sicher auch damit zu tun, dass man das Leben annimmt, ohne zu fragen, ob es sinnvoll ist oder nicht. Es gibt natürlich viele Möglichkeiten, das eigene Schicksal als sinnvoll zu betrachten, etwa weil man an eine höhere Fügung glaubt. Dann kann man leicht gelassen sein. Ich glaube mittlerweile, dass alles einen Sinn hat, den ich aber nicht erklären kann und auch nicht erklären will. Aber die Erklärung, dass ein persönlicher Vatergott mich beschützt, liegt mir sehr fern.

Ilse Helbich in der ehemaligen Scheune ihres Hauses.
Foto: Mia Eidlhuber

Standard: Im Buch nennen Sie das "geborgene Gelassenheit" oder auch "gelassene Geborgenheit". Wir sitzen hier im Garten Ihres Hauses, das Sie spät gebaut und umgebaut haben, wie das in Ihrem wunderschönen Buch "Das Haus" nachzulesen ist. Hat Ihnen dieses Haus diese "geborgene Gelassenheit" gegeben?

Helbich: Dieses Haus war total verbaut. Ich habe es nach alten Fotovorlagen zurückgebaut. Das war ein Aufwand. Als es fertig war, hatte ich stark das Gefühl, dass ich dieses Haus erlöst habe, und später kam das Gefühl: Indem ich dieses Haus erlöst habe, habe ich mich selbst erlöst. Das war keine gute Tat, es war eine Notwendigkeit. Mit dieser Aufgabe sind viele Bedrängnisse und Ausweglosigkeiten von mir abgefallen. Ich bin mit diesem Haus eine andere geworden. Jetzt bin ich dreißig Jahre hier, ich war auch immer wieder krank und schwerkrank, aber über allem liegt das gelassene Gefühl: Hier kann mir nichts passieren.

Standard: Sie kommen, das kann man gar nicht anders sagen, aus großbürgerlichen Verhältnissen. Hilft Geld beim Gelassensein?

Helbich: Mir ist klar, dass dieses Leben möglich ist, weil ich von meinen Eltern geerbt habe. Ich überlege manchmal, ob ich mir das ohne meine finanziell gute Situation hätte vorstellen können, und muss sagen: Ich glaube schon. Ich hätte zwar nicht so ein Haus, aber vielleicht irgendwo ein Kammerl im Grünen. Es gab auch unsichere Zeiten, in denen nicht klar war, ob ich dieses Geld habe oder nicht. Heute gehört mir ohnehin nichts mehr.

Standard: Geld ist also auch kein Garant für Gelassenheit.

Helbich: Wie man an vielen Herrschaften sieht.

Standard: Es steht ein schöner Satz in Ihrem Buch: "Das Wissen um den Tod steht vielleicht im Hintergrund jeder Gelassenheit." Wer mit Ihnen zu tun hat, versteht diesen Satz noch besser.

Helbich: Wenn ich an meinen jetzigen Zustand denke, denke ich natürlich den Tod immer mit. Wenn ich mich abends ins Bett lege, bin ich neugierig, ob ich morgen früh wieder aufwache. Nachdem ich mit meinem Herz nicht so gut beisammen bin, ist das ein natürlicher Gedanke. Wenn ich so an Nahtoderfahrungen denke, die Elisabeth Kübler-Ross beschrieben hat, wo Sterbende durch einen Tunnel kommen, alles ist beengt und zum Schreien, und dann kommt dieser Sog, und auf einmal ist alles ganz hell. Das hat für mich sehr viel mit einem Geburtserlebnis zu tun. Vielleicht ist es am Ende ähnlich, und wir sind plötzlich woanders, wo wir nicht nachdenken müssen, wo wir da sind. Das finde ich schön, das Gefühl, nicht zu wissen, woher man kommt. Auf alten Hamburger Höfen steht das: "Weiß nicht, woher ich komm, weiß nicht, wie lang ich bleib, weiß nicht, wohin ich geh, mich wundert, dass ich fröhlich bin ..." Der Spruch sollte sich reimen ... (lacht). Und dann denke ich, dass mich mein eigener Tod gar nichts angeht. Tod gehört nicht zum Leben. Das Alter hingegen ist pure Gegenwart. Bei mir passiert von außen noch alles Mögliche. Da habe ich Glück. Ich habe immer noch Aufgaben, aber ich kenne auch schon den Zustand der puren Gegenwart ohne Aufgaben. Das ist für viele alte Leute bedrückend. Und ich kann mit meinem Körper zwar schlecht, aber immer noch hantieren. Ich schwanke beim Gehen, habe alle möglichen Schmerzen und kann mich manchmal gar nicht rühren. Aber ich weiß, ich komme in einen Zustand, wo mein Körper mir noch untertan ist. Ich weiß nicht, was passiert, wenn das nicht mehr so ist. Ich würde mich nicht trauen, jemanden zu trösten, der im Begriff ist, sich selbst verlorenzugehen. Es kann immer noch sein, dass ich in voller Verzweiflung ende.

Standard: Gibt es von Ihnen einen Wunsch in Bezug aufs Sterben?

Helbich: Ja. Ich möchte sehr bewusst sterben können. Ich habe eine Freundin gehabt, die hat immer gesagt: Wenn es einen Weltuntergang gibt, dann möchte ich ihn erleben (lacht). In diesem Sinn: Ich würde sehr gern bewusst weggehen. (ALBUM, Mia Eidlhuber, 1.8.2021)