Die Naturromantik, der Nationalstaat, die weiße Antike. Mormonen, Zeugen Jehovas, die Unfehlbarkeit des Papstes. Schottische Tartans und alpine Trachten. Tourismus und Sommerfrische. Was diese Dinge gemeinsam haben? Sie alle waren vermeintlich schon immer da, sind aber alle eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Auch der Neusiedler See ist eine. Nein, natürlich nicht der See an sich, sondern seine Landschaft in der heutigen Form: flaches Wasser, umringt von einem bis zu fünf Kilometer breiten Schilfgürtel, rundherum Steppe.

Diese Landschaft ist ein Konstrukt. Das Schilf ist kaum älter als 100 Jahre und entstand erst durch die Regulierung mit Damm und Kanal. Bis dahin war die Gegend im heutig touristischen Sinne alles andere als attraktiv: Sumpf, Fäulnis, Gelsen und Gatsch, eine monotone Landschaft ohne Schatten. Die menschlichen Eingriffe änderten das radikal. Erste Badeanlagen entstanden um 1900, damals noch an den Ortsrändern, und wanderten dann mit dem wachsenden Schilf dem See hinterher.

Konstruktionen im Schilf: primitive
Anfänge (Badehütte im Seebad Neusiedl
am See um 1900, Ausschnitt aus einer Postkarte, Verlag Stefan Amon)...
Foto: Neusiedler Stadtarchiv

In den 1920er Jahren folgten private, noch recht primitive Seehütten und öffentliche Badeanlagen, der See wurde als "Meer der Wiener" beworben. "Die pannonische Landschaft wurde als Kontrast und zugleich Ergänzung zum alpin geprägten Österreich gesehen, der Dichter Franz Werfel sprach in diesem Zusammenhang von "Österreichs seltsamem Gast," schrieb Kurator Sándor Békési 2011 in der Ausstellung Neusiedlersee – Das Meer der Wiener im Wien-Museum.

Dreiecke und Dorfanger

Eine weitere Ausstellung in der Architekturgalerie Raumburgenland in Eisenstadt erzählt jetzt die Geschichte neu und anders. Konzipiert wurde sie vom jungen Absolventen Nikolaus Gartner auf Basis seiner Diplomarbeit an der TU Wien. Selbst aufgewachsen in Neusiedl am See, trieb ihn die Frage um, warum es keinen Konsens gibt, wie im Schilfgürtel richtig zu bauen sei.

...und eine mögliche Zukunft
(Entwurf Diplomarbeit Nikolaus Gartner).
Foto: Nikolaus Gartner

Also machte er sich daran, die Geschichte dieses Bauens und des Schilfs aufzuarbeiten. Jenes ist ein ambivalentes Gewächs. Eine aggressive Monokultur, die sich hartnäckig ausbreitet, aber auch das Wasser filtert, vielfältige Fauna beherbergt und als Baustoff dient.

Der Schwerpunkt liegt dabei auf Siedlungsmustern und Architekturen und ihrer Wechselwirkung mit der Landschaft – auch im Sinne einer Selbstvergewisserung, wie man als Architekt richtig darauf reagieren kann. "Man muss Landschaft verstehen", sagt Nikolaus Gartner. "Ich bin gegen einen rein formalen Zugang, der nur Elemente zitiert." Als Vorbild dient Roland Rainers vielbeachtete Bestandsaufnahme Anonymes Bauen im Nordburgenland von 1961, die vor der damals drohenden Zerstörung der Dörfer warnte. Ein Erbe, dessen sich seither kaum jemand angenommen hat. Zwar wurden viele landestypische Streckhöfe gerettet, doch zu einem Aufschwung des baukulturellen Bewusstseins hat das Burgenland nicht gefunden.

Wie baut man im Schilf, wo man vielleicht überhaupt nicht bauen sollte? Bewegt man sich mit der Ausstellung durch die Geschichte, scheint es, dass jeder seine eigene Idee hatte, wie die Landschaft zu verstehen sei. Das Tourismus-Marketing vermischte Elemente aus der Puszta und aus dem Weinbau zu einem synthetischen Brunnen-Hütten-Flachland-Bild einer Neusiedler-See-Identität. Erfundene Tradition, wie der Historiker Eric Hobsbawm dieses Phänomen nannte.

Foto: Herwig Udo Graf

Auch Architekturstile wurden erfunden, importiert und gemixt. Herwig Udo Grafs Yachtclub Rust (1967/68) war von skandinavisch-moderner Eleganz, mit der Romantika-Siedlung im selben Ort brachte er kurz darauf die dreieckige Spitzhütte als Pfahlbau ins Spiel. Inspiriert war diese, wie Architekt und Burgenlandexperte Stefan Tenhalter vermutet, vom Bild einer zeltförmigen "Weinhüterhütte" im Seewinkel in Roland Rainers Werk. Bald wurden tobleroneförmige "Dachhäuser" dieser Art international zum beliebten Ferienhaus-Typ.

Foto: Herwig Udo Graf

Auch der Seepark Weiden (1976) bediente sich aus dem Burgenland-Fundus und arrangierte kleine Streckhöfe um einen "Dorfanger". Je nach Auslegung ein spielerisches Weiterdenken ländlicher Bauformen oder ein Haustyp aus dem seefernen Ortskern, der entgegen seinem Willen ans Wasser verschleppt wurde. Architekt Georg Reinberg zeigte mit der Inselwelt Jois (2001), wie in enger Kooperation mit Naturschützern eine ökologisch und architektonisch sensible Feriensiedlung möglich ist.

Foto: Nikolaus Gartner

Aperolspritzisierung

Auch Konflikte zwischen unterschiedliche Auffassungen von Landschaft und Tourismus sind, wie die Ausstellung zeigt, so alt wie das Schilf. Schon 1927 schrieb die Bezirkshauptmannschaft einen Brief an die Seegemeinden, man solle die Auswüchse des Tourismus bezähmen. 1971 brachte der Protest die schon bewilligte Brücke quer über den See zu Fall. 1972 beklagte die Wochenpresse den aus Westösterreich herübergeschwappten "Apartment-Boom", 1980 warnten Naturschützer angesichts eines Hotelneubaus in Rust, am Neusiedler See sei es "fünf vor zwölf".

2001 wurde die Kulturlandschaft zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt, mehrere Schutzgebiete überlagern sich hier, doch der Druck durch den Tourismus ist so stark wie nie, auch die Klientel hat sich geändert. War der Neusiedler See in den 70er-Jahren das Ferienziel des proletarischen Mundl Sackbauer, kam es mit der Eröffnung des Restaurants Mole West 2000 zur Aperolspritzisierung der Region, die ungehindert anhält. Die Seevillen Oggau sind eine Gated Community, das Seerestaurant Breitenbrunn und der Yachtclub Rust sind dem Geschäftssinn der mächtigen Familie Esterházy gewichen.

Die Baulandwidmung Fremdenverkehr, von Nikolaus Gartner nüchtern kartiert, ist heute Gold wert, weil unvermehrbar. Angesichts dieses Wachstumsdrucks und der größer werdenden Hotelprojekte wurde immer wieder ein räumlich-gestalterisches Gesamtkonzept gefordert. Die Ausstellung unterstreicht diese Forderung mit ruhiger Sachlichkeit – und mit einem Vorschlag für eine Schilfhausbebauung in seiner Heimat.

Muss es einen Konsens geben? Oder geht es nur darum, die Grenzen des Verträglichen festzuschreiben, die Ebbe und Flut von Wasser, Schilf und Rendite zu regulieren? Eine wichtige, zu lange vernachlässigte Diskussion ist wieder eröffnet. (Maik Novotny, 1.8.2021)