Am östlichen Rand von Lustenau, durch den Naturraum Ried, soll die S18 verlaufen.

Foto: Dietmar Mathis

Seit mehr als vier Jahrzehnten rasen die Lkws an Werner Alfares Fenster vorbei. Bis zu 2500 am Tag sind es, hier in der Reichsstraße in Lustenau. Durch sie fahren, neben der Grindelstraße, die meisten Fahrzeuge, die zwischen der Schweizer Autobahn A13 und der Vorarlberger A14 verkehren. Ändern würde sich das durch eine direkte Verbindung – die S18 Bodensee Schnellstraße. Die erneute Überprüfung des Straßenprojekts durch das Klimaministerium stößt Alfare dementsprechend sauer auf: "Evaluieren heißt für mich abklären, ob es die Straße braucht oder nicht. Wer auch immer das prüft, soll einmal eine Woche hier leben – dann wird jedem klar sein: Ja, es braucht eine Straße!"

Zankapfel S18

Die S18 beschäftigt die Marktgemeinde Lustenau und ihre rund 24.000 Einwohner wie kein anderes Thema. Nun wurde die Debatte über Nacht zum Symbolbild für den Koalitionsstreit über den Klimaschutz in Österreich. Klimaministerin Leonore Gewessler (Grüne) hatte eine erneute Prüfung aller Straßenprojekte der Asfinag hinsichtlich ihrer Klimaverträglichkeit angeordnet, so auch der S18. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) stellte sich daraufhin hinter seinen Parteikollegen, den Vorarlberger Landeshauptmann Markus Wallner. Die Botschaft lautete: Die S18 kommt, komme was wolle. Doch was wollen die Lustenauer? Die Bewohner jener Gemeinde, die am stärksten vom Bau der S18 betroffen wäre? Der STANDARD reiste ins Ländle, in der Erwartung, auf entschiedene Gegner und überzeugte Befürworter der Projekts zu treffen – und wurde überrascht.

Leonore Gewessler ordnete eine erneute Evaluierung des Projektes an.
Grafik: Der Standard

Wie sehr der Transitverkehr Lustenau im Griff hat, wird klar, wenn man die Grindelstraße entlangspaziert. Mehrere Tankstellen reihen sich aneinander, "Oskis Jausenstation" macht gerade Sommerpause, ist sonst aber ein beliebter Trucker-Stopp, hört man. Eine Straße zum Durchfahren – nicht zum Leben. Anrainer wie Werner Alfare sehnen sich nach einer Umfahrungsstraße – wie diese aussieht, ist den meisten mittlerweile egal. Doch nicht allen: Daniel Hämmerle ist erst vor einigen Jahren mit seiner Familie in sein Elternhaus in der Grindelstraße zurückgezogen. Dass die Situation dort gerade mit Kindern nur schwer auszuhalten ist, bestätigt er. "Aber eine Schnellstraße wie die S18 ist nicht die Lösung. Ich bin selbst Unternehmer und als Anrainer betroffen, trotzdem halte ich das Projekt in dieser Form für nicht zukunftsträchtig."

Dilemma mit zwei Buchstaben

Konkret geht es dabei um die derzeit von der Asfinag und vom Land Vorarlberg präferierte sogenannte CP-Variante, die die Gemeinde in den Augen vieler Lustenauer vom Regen in die Traufe führen würde. Denn: Sie würde den Ort am östlichen Rand durch die mehrspurige Schnellstraße vom grünen Naherholungs- und Natura-2000-Gebiet Ried abschneiden.

Der Naturraum Ried.
Foto: Dietmar Mathis

"CP steht für mich für Cholera und Pest", sagt der Lustenauer Bürgermeister Kurt Fischer zum STANDARD. Eigentlich wolle er sich in Corona-Zeiten keiner Krankheitsvergleiche mehr bedienen, sagt er. Aber das Bild passe zu gut. "Cholera – das wäre, wenn wir die Variante nicht bauen, und alles bleibt, wie es ist. Dann bleiben das Ried erhalten und der Osten von Lustenau verschont – aber die Überlastung im Ortsgebiet bliebe unverändert." Die "Pest" wäre für ihn, wenn die CP-Variante tatsächlich so fixiert würde.

Kurt Fischer ist ÖVP-Mitglied, die S18 begleitet ihn fast seine gesamte politische Karriere über. Erst als Landtagsabgeordneter und seit dem Jahr 2011 als Lustenauer Bürgermeister. Er hat Jahre damit verbracht, die sogenannte Z-Variante voranzutreiben. Die kürzere Version der S18 hätte das Ried gequert, nicht wie die CP-Variante längs geschnitten. Diese Straße hätte in der Bevölkerung "zumindest eine Verfassungsmehrheit" gehabt, schätzt Fischer schmunzelnd. Das Lachen vergeht ihm aber, wenn er daran denkt, wie die Z-Variante vergangenen Herbst in seinen Augen still und heimlich und für ihn überraschend zu Grabe getragen wurde. Er selbst erfuhr über Medienvertreter davon, die Kränkung sitzt auch heute noch spürbar tief.

Anders sieht das Andreas Postner: "Die Z-Variante war von Beginn an zum Scheitern verurteilt", kontert er. Der Architekt ist als Umweltschützer und Vorsitzender der Naturschutzinitiative Transform seit Jahrzehnten in die Causa S18 involviert. Eine der Z-Variante ähnliche Streckenführung sei wegen des Eingriffs in Natura-2000-Gebiete bereits Jahre zuvor ausgeschlossen worden. Auch die CP-Variante hält Postner deshalb für kaum realisierbar. Und nicht nur wegen des Naturschutzes – Probebohrungen hätten ein katastrophales Bild ergeben, Postner spricht aus baulicher Perspektive von einem "Hochrisikoprojekt". Wieso ÖVP-Politiker und Asfinag trotz dieser bekannten Bedenken die CP-Variante weiter vorantreiben, kann er sich nicht erklären: "Ich frage mich, ob da Gelder geflossen sind."

Bedrohte Idylle

DER STANDARD trifft Postner gemeinsam mit Eugen Schneider von der Bürgerinitiative "Lebensraum Zukunft Lustenau" dort, wo die Trasse der S18 durch das Ried führen soll. Es ist eine grüne Idylle, nur bei genauem Hinhören ist das Rauschen der Schweizer Autobahn zu hören. "Die Menschen kommen mit ihren Kindern her, da es hier besonders viele Hasen zu sehen gibt", erzählt Schneider. Natura-2000-Gebiet ist das Ried wegen der Tiere, doch für die Lustenauer ist es als Naherholungsraum ebenso wichtig. Das zeigen die Spaziergänger, Radfahrer, Jogger – und die Aufschrift in einem Schuppen: "Betet für das Ried".

Postner und Schneider sind sich einig: Lustenau muss anders entlastet werden als durch diese Schnellstraße. Den Vorschlag der Grünen-Ministerin Gewessler, eine Untertunnelung bei Hohenems, begrüßen sie. Gemeinsam mit dem Ausbau der Brücke bei Höchst würde im Vergleich mit der S18 weniger Fläche versiegelt, außerdem wäre der Tunnel in fünf bis sechs Jahren realisierbar. Sowohl Flächenverbrauch als auch Kosten und Bauzeit sind bei der CP-Variante immens. Die Schätzungen reichen von 18 bis 27 Hektar Fläche, die Kosten dürften bei bis zu 1,5 Milliarden Euro liegen. Fertig wären die rund achteinhalb Kilometer Straße in etwa 20 Jahren.

Die Untertunnelung bei Hohenems wurde allerdings in der ÖVP bereits als Ablenkungsmanöver abgetan – sie könne niemals die S18 ersetzen, hieß es von Landeshauptmann Wallner. Auch der Lustenauer Bürgermeister ist skeptisch: "Hier geht es in meinen Augen nicht darum, eine Lösung zu finden. Lustenau ist nur der Spielball der Regierung im Streit über die Klimapolitik." Angesichts der verfahrenen Situation befürchtet er zudem, dass die Evaluierung eine Spaltung der Bevölkerung zur Folge haben könnte. Während die von der CP-Variante betroffenen Anrainer sich hinter alles stellen könnten, was diese verhindert, fürchtet Fischer, dass die jetzt Betroffenen lieber diese Straße als erneut völlige Unsicherheit sehen würden.

Diese Sichtweise teilt Christine Bösch-Vetter nicht. Die Lustenauer Grünen-Gemeinderätin hat in den vergangenen Jahren ein Umdenken in der Bevölkerung beobachtet: "Auch dort, wo die Belastung jetzt am schlimmsten ist, sprechen sich viele gegen den Bau der CP-Variante aus. Gerade dort ist den Menschen ja bewusst, was der Verkehr bedeutet. Und auch, dass durch den Bau der S18 noch viel mehr Fahrzeuge angezogen würden!"

Lösung statt Lagerbildung

Andreas Postner hält die geplante Streckenführung durch das Ried für nicht realistisch. Dass Alternativen geprüft werden, befürwortet er. Noch prägen allerdings Lkw-Kolonnen den Alltag in der Grindelstraße in Lustenau.
Foto: Dietmar Mathis

Auch wenn Bürgermeister Fischer, Architekt Postner, Aktivist Schneider, Grünen-Politikerin Bösch-Vetter und die Anwohner in der Grindel- und der Reichsstraße in vielem unterschiedlicher Meinung sind, eines fällt auf: Sie sprechen wertschätzend voneinander, kennen sich aus verschiedensten Planungsprozessen und wollen im Kern dasselbe – nämlich eine Verkehrsentlastung für Lustenau, die das Problem nicht verlagert, sondern löst. Lustenau wirkt nicht zerrissen, sondern abgekämpft. Bevölkerung wie Kommunalpolitik wünschen sich, dass ihre Appelle in der Politik ankommen: "Polarisiert wird eher in Wien denn in Lustenau", sagt Schneider.

"Die Politik hat sich auf eine Straßenvariante versteift, von der wir in 20 Jahren froh sein werden, dass wir sie nicht so gebaut haben", schlussfolgert auch Anrainer Hämmerle. "Eine große Schnellstraße zu bauen oder eben nicht – das reicht nicht. Die Lösung wird vermutlich aus mehreren kleinen, und nicht einer großen Straße bestehen", vermutet er. Ob er damit recht hat, steht noch in den Sternen. Die Prüfung im Ministerium soll bis Herbst abgeschlossen sein. Doch der Ort wird eine gangbare Lösung brauchen – daran führen kein Weg und keine Schnellstraße vorbei. (Antonia Rauth, 31.7.2021)