Jakob Schuberts große Stärke liegt im hier abgebildeten Vorstieg, aber auch im Bouldern hat der routinierte Tiroler Chancen auf Spitzenplätze.

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An Jakob Schuberts Account auf der größten Schach-Website chess.com sieht man, dass Olympia ist. Die letzte abgeschlossene Partie datiert vom 26. Juli, davor waren es im Schnitt etwa zwei Runden Schnellschach pro Tag. Ein Duell mit einem italienischen Spieler – wahrscheinlich Schuberts Mitbewohner und Olympia-Konkurrent Michael Piccolruaz – pausierte zu Redaktionsschluss bereits seit sechs Tagen. Der Tiroler hatte wie immer mit dem Damengambit eröffnen wollen, sein Gegner drehte das mit der indischen Verteidigung ab. Nach dem 24. Zug hat Schubert die bessere Stellung.

Doch jetzt hat er anderes zu tun, jetzt geht es um Olympiagold. Schubert ist Kletterer, und zwar einer der allerbesten. Bei Weltmeisterschaften hat er dreimal Gold, viermal Silber und einmal Bronze gesammelt, für Tokio galt er stets als Österreichs heißester Medaillenkandidat. Am Dienstag klettert der 30-Jährige ab 10 Uhr in der Qualifikation, das Finale der Top acht steigt am Donnerstag ab 10.30 Uhr.

Komplexes Format

Da der Klettersport für sein Olympia-Debüt nur einen Medaillensatz je Geschlecht bekommen hat, greift man zum unbeliebten Kombinationsformat: Die Platzierungen der drei Disziplinen Speed (eine immer exakt gleiche Route, in der es nur um Geschwindigkeit geht), Bouldern (schwierige, ungesicherte Routen in Absprunghöhe) und Vorstieg (eine lange Route am Seil) werden multipliziert. Je weniger Punkte, desto besser.

Auf dem Papier schafft es der Tiroler recht sicher ins Finale, in der Praxis muss auch der Faktor Glück mitspielen. Gerade im Bouldern spielt die Routensetzung eine gewichtige Rolle: "Es kommt drauf an, wie einem die Boulder taugen. Das Potenzial für die Top drei habe ich, aber man kann schnell auf 15 rutschen." Im Speedbewerb geht es für den Österreicher eher um Schadensbegrenzung, mindestens einen solchen Schwachpunkt hat außer dem Topfavoriten Tomoa Narasaki aber jeder. Läuft alles wie erwartet, wird sich der japanische Kombinationsweltmeister die Medaillen mit Schubert und dem Tschechen Adam Ondra ausmachen.

Das STANDARD-Erklärvideo: So funktioniert Klettern bei den Olympischen Spielen.
DER STANDARD

Was da für den Tiroler spricht? In erster Linie seine schiere Muskelkraft, hier kann ihm keiner etwas vormachen. Aber so "kraftig" der Sport aussehen mag: Der Erfolg entscheidet sich auch im Kopf. Und hier könnte Schuberts entscheidender Vorteil liegen. Im ersten Lockdown hat der Tiroler Schach für sich entdeckt, Computerspiele spielt er schon länger, zum Beispiel League of Legends oder den Battlegrounds-Modus des Online-Sammelkartenspiel Hearthstone: "Ich glaube, da war ich sogar unter den besten tausend Europas."

Lernen, lernen, lernen

Es sind Beschäftigungen, die sowohl strategisches Überlegen als auch schnelles Adaptieren fordern. Schubert spielt nicht nur, er inhaliert auch Erklärvideos, schaut Spielerstreams und Schachturniere: "Ich finde es beeindruckend, was es da für Genies gibt." Von denen will er lernen. "Ich versuche in allem, was ich anfange, besser zu werden. So kann man seinen Ehrgeiz neben der Sportart ausleben. Davon haben wir Sportler einfach zu viel."

Nach dem Spiel werden Fehler gesucht. "Das Analytische, das Schach hat, taugt mir voll – und das hilft auch im Klettern. Gerade im Speedklettern kann man analytisch viel einbringen, weil die Route immer gleich ist." Man stelle Fragen wie: "Wie weit ist die Hüfte von der Wand weg, wie ist der Fuß gedreht?"

Köpfchen

Im Vorstieg und Bouldern müssen die Athleten die Wand richtig lesen und den richtigen Weg erkennen – oder im richtigen Moment geistesschnell genug sein, um Irrtümer zu korrigieren. "Es geht oft einfach darum, der schlauste Kletterer zu sein", sagt Schubert dem STANDARD. "Oft sind die Boulder gar nicht so schwer, wenn man weiß, was man tun muss. Da hat man nie ausgelernt."

Jakob Schubert bei der Wettkampfsimulation.

Tokio bringt besondere Herausforderungen. "Von der Feuchtigkeit her ist Tokio das Zachste, wo wir je geklettert sind", sagt Schubert. "Nach vier Zügen hat man kaum mehr Magnesium an den Händen. Man muss lernen, mit dem schlechten Gefühl weiterzuklettern."

Pilz hofft

Das muss auch Jessica Pilz, die Vorstieg-Weltmeisterin 2018 konnte wegen einer Ringbandverletzung aber nicht wie geplant trainieren. Ihr Ziel ist nun ein Einzug in das Finale am Freitag. Die Goldmedaille der Frauen scheint ohnehin vergeben, die Slowenin Janja Garnbret klettert in einer eigenen Liga. (Martin Schauhuber, 2.8.2021)