Am Alexanderplatz schien die Polizei ob der hohen Teilnehmerzahl überfordert.

Foto: Lutz Jäkel

Die Bilanz der verbotenen "Querdenker"-Demos in Berlin vom Sonntag ist erschreckend: mehrere verletzte Journalisten und Polizisten, die von sogenannten Querdenkern vor laufenden Kameras attackiert wurden – und ein toter Demonstrant, der kollabiert sein soll.

Für Aufsehen sorgte der Angriff auf Jörg Reichel, den Landesgeschäftsführer der Journalistengewerkschaft DJU für Berlin-Brandenburg, der von Demonstranten von seinem Fahrrad gezerrt, getreten und geprügelt wurde. Er musste ins Krankenhaus und konnte am Montag kein Interview geben.

"Seelisches Trauma"

"Er konnte mittlerweile wieder aus dem Krankenhaus entlassen werden", erzählt die DJU-Bundesgeschäftsführerin Monique Hofmann am Montag dem STANDARD. Er habe schwere Prellungen erlitten, aber "viel schlimmer ist das seelische Trauma, er ist jetzt nicht in der Lage, darüber zu sprechen". Er sei mit dem Rad vor hunderten Demonstranten gefahren und "wollte eine 360-Grad-Aufnahme mit seinem Handy machen", sagt Hofmann. Dass Reichel gezielt attackiert wurde, kann man annehmen. Er dokumentierte die Demos gegen die Corona-Maßnahmen von Beginn an und stellte sich schützend vor Journalisten und Pressefreiheit.

Die Demozüge verteilten sich über die Stadt. Hier marschieren "Querdenker" gemeinsam Unter den Linden.
Foto: Lutz Jäkel

Außerdem koordinierte Reichel bei Demos den Kontakt zwischen Medien und Polizei. Auch am Sonntag twitterte er live von den verschiedenen Standorten, wo sich Demonstranten und Demonstrantinnen versammelt hatten.

Dafür wurde er auch "schon oft bedroht und beleidigt", weiß Hofmann, sein Foto wurde auf einschlägigen Telegram-Kanälen verbreitet und auch in einem gedruckten Blatt der "Querdenker" namens Demokratischer Widerstand. Polizei konnte Reichel keine helfen. "Da war keine", so Hofmann, die weiter erzählt, ein Autofahrer, der stehenblieb, sowie zwei Passanten und ein Fotograf seien Reichel schließlich zu Hilfe gekommen. Die Polizei ermittelt wegen gefährlicher Körperverletzung, versuchtem Diebstahl und Sachbeschädigung – Reichels Handy wurde zerstört.

Demozüge aufgeteilt

Ein Grund dafür, dass die Polizei angesichts der Teilnehmerzahl an manchen Orten unvorbereitet bzw. unterbesetzt wirkte, könnte die Aufteilung der Demozüge auf mehrere Plätze sein. Insgesamt waren es rund 5000 Protestierende.

"Bei der Siegessäule war das Polizeiaufgebot groß", bemerkt der Fotoreporter Lutz Jäkel im Gespräch mit dem STANDARD, "aber am Alex dachte ich mir, dass da viel zu wenig Beamte waren. Wenn du da angegriffen wirst, kann dir keiner helfen." Am Alexanderplatz kam es tatsächlich zu gewaltsamen Zwischenfällen.

Verhaftung am Brandenburger Tor. Immer wieder brachen Demonstranten auf der untersagten Demo auch durch Polizeisperren. Insgesamt wurden fast 600 Personen verhaftet, 60 Prozent stammten aus anderen Bundesländern.
Foto: Lutz Jäkel

Unter anderem wurde von Demonstranten auf einen Polizisten eingetreten. Ein Journalist versuchte dann, den Beamten von den Angreifern abzuschirmen, bis Verstärkung vor Ort war. Der Vorfall wurde auf einem Video festgehalten, dessen Echtheit die Polizei bestätigte.

Der verstorbene 49-jährige Demonstrant klagte laut Polizei während einer Identitätsfeststellung "über ein Kribbeln in Arm und Brust. Zudem war er augenscheinlich kaltschweißig." Beamte sollen Erste Hilfe geleistet haben, bis ein Rettungswagen eintraf. Der Mann verstarb im Krankenhaus. Die "Querdenker"-Szene feiert ihn in sozialen Medien als Märtyrer. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.

"Freiheit! Demokratie", riefen viele Demonstranten am Sonntag. Sie sehen Deutschland auf den Weg in eine Diktatur. Manche haben auch andere Botschaften, wie dieser Mann am Berliner Dom.
Foto: Lutz Jäkel

Jäkel begleitet die Demos seit Beginn und beobachtet auch, dass "es zwar weniger geworden sind, aber ein harter Kern bleibt übrig, der sich zunehmend radikalisiert hat. Die Leute schreien, dass sie in einer Diktatur leben, und greifen gleichzeitig Polizisten an." Von der breiten und bunteren "Querfront", die 2020 noch unterwegs war, seien nur noch wenige harmlose Teilnehmer übrig, so Jäkel. Es reiche, bei den Einsätzen eine Maske und einen Presse-Radhelm zu tragen, um "wirklich permanent beschimpft und angepöbelt zu werden". Zudem seien gefälschte Presseausweise, mit denen sich Rechtsextreme durch Polizeisperren schummeln, ein großes Problem.

(Colette M. Schmidt aus Berlin, 3.8.2021)