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Simone Biles ist vierfache Olympiasiegerin. Die US-Amerikanerin ist für ihre spektakulären und anspruchsvollen Auftritte bekannt. Schraubenelemente gehören regelmäßig dazu.

Foto: REUTERS/Lindsey Wasson

Als Starturnerin Simone Biles vergangene Woche das Mannschaftsfinale bei den Olympischen Sommerspielen abbrach, war das Erstaunen groß. Die 24-Jährige begründete ihren Entschluss mit "psychischen Problemen", erklärte kurz darauf, dass sie an "Twisties" leide. Letzteres mag für den Laien unscheinbar klingen, ist in der Welt der Gymnastik aber ein durchaus bekanntes Phänomen – und gefürchtet. Denn "Twisties" ist eine Art Schraubenblockade. Die Sportlerin hat also Probleme, eine Schraube (Englisch: twist) auszuführen.

Wer jahrelang geturnt hat, hat diese Bewegung, also die Drehung im Sprung über die eigene Längsachse, hunderte Male geübt und durchgeführt, bis sie irgendwann ins Blut übergeht, in einen Automatismus. Bei "Twisties" ist dieser Automatismus plötzlich verloren. So musste Biles ihren ersten Sprung im Teambewerb abbrechen. Nachher sagte sie: "Ich wusste nicht mehr, wo ich in der Luft bin." Sie hatte die Orientierung verloren, konnte nicht mehr "oben von unten unterscheiden". Als Konsequenz daraus zog sie sich aus dem Bewerb zurück.

Blick fürs Timing

Martin Spatt kann ein Lied davon singen. Der Österreicher litt 2013 am Blackout-Syndrom, so nennt man im Trampolinspringen das Pendant zu den "Twisties". Er wollte bei einem Turnier in Salzburg einen Doppelsalto mit Schraube zeigen. In der Theorie bedeutet dies, dass der Sportler nach eineinhalb Saltos nach unten blickt, weil das der Zeitpunkt ist, um die Schraubenbewegung einzuleiten. Spatt "hat aber den richtigen Zeitpunkt verpasst". Am Ende wurde es ein Dreifachsalto.

Zunächst wollte er das Malheur nicht überbewerten. Kann ja passieren. Dann häufte sich das Problem aber im Training. "Irgendwann hatte ich bei allen Elementen, die mit einer Schraube enden, dieses Blackout und Angst."

"Man fühlt sich ohnmächtig"

Angst deshalb, weil das Urvertrauen erschüttert ist. Man hört als Kind ja nicht umsonst, dass man etwa Radfahren nicht verlernen kann, wenn man es mal erlernt hat. Und eine Schraube gehört zu den turnerischen Basics. "Dir wird der Boden unter den Füßen weggerissen, wenn die einfachsten Sachen nicht mehr klappen. Man fühlt sich ohnmächtig", sagt Spatt zum STANDARD.

Und hier wird es zum mentalen Problem. Denn solch ein Syndrom frustriere und knabbere am Selbstvertrauen. Ein Trainer habe ihm gesagt: "Es ist wie eine Spur im Gehirn, die man verloren hat. Je öfter man eine neue Spur legt, indem man die falsche Bewegung macht, desto tiefer wird diese."

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Trampolinspringer Martin Spatt litt 2013 am Blackout.
Foto: REUTERS/Aziz Karimov

Der Auslöser für dieses Syndrom ist unklar. Spatt zufolge könnte es damit zusammenhängen, dass man zu viel nachdenke. Ein Automatismus zeichnet sich ja dadurch aus, dass man eben nicht nachdenkt. Sobald man das zu sehr macht, gehe das Timing verloren. Es könnte aber auch ein eingeschlichener technischer Fehler sein.

Was ist die Lösung? "Geduld und Training an den Basics. Wir haben den Sprung in jede einzelne Bewegung aufgeteilt", sagt er. "Ich musste wieder erkennen, wann der richtige Moment für die Schraube ist. Wo sehe ich da mit meinen Augen hin?" Trainiert wurde viel in der Schnitzelgrube, also auf besonders weichem Untergrund, als Schutz gegen mögliche Stürze und die Angst.

Harte Landung

Auch Biles hat dort am Freitag trainiert. Als Beweis gegen Unkenrufe, dass sie sich nicht so anstellen solle, veröffentlichte sie auf Instagram ein Video, in dem sie auf dem Stufenbarren eine Schraube probiert – sie landet suboptimal auf dem Rücken. "Mein Geist und mein Körper sind einfach nicht im Einklang", schrieb der US-Star. In der Schnitzelgrube aushaltbar, aber im Wettkampf auf dem härteren Boden gefährlich. Umso mehr für eine Ausnahmekönnerin, die für ihre spektakulär hohen Schwierigkeitsgrade mit Schrauben bekannt ist.

Es ist schwer vorhersehbar, wie lange man am Schraubensyndrom leidet. Sagte Biles ihre Einzelauftritte am Boden, am Stufenbarren und im Sprung noch ab, gab sie am Montag bekannt, am Dienstag auf dem Schwebebalken anzutreten. Und das gelang ihr höchst erfolgreich. Sie eroberte Bronze, verzichtete aber auf jegliche Schraubenelemente.

Bei Spatt dauerte es bis zum Comeback mehrere Monate. Nach einer längeren Wettkampfpause nach Sprunggelenksproblemen peilt der Gymnastiklehrer am Universitätssportinstitut Wien in den nächsten Jahren bei WM und EM "einen Platz im vorderen Mittelfeld" an. "0,05 Prozent Angst" seien noch da, da helfe eine Sportpsychologin. Aber er habe wieder Spaß am Trampolin. "Ich bin so gut wie nie zuvor." (Andreas Gstaltmeyr, 3.8.2021)

Update am Dienstag: Biles-Medaille wurde eingebaut.