Vormoderne Ernährungslehre war naiv, denn sie verfügte nicht über die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten heutiger Ernährungsmedizin. Und doch ist man bei einer Lektüre von Quellen erstaunt, wie treffsicher, alltagstauglich und wohlschmeckend die Ernährungsmedizin und Gesundheitsküche der Alten sein konnten. Das soll hier am Beispiel des sogenannten Magenfeuer-Managements vorgeführt werden.

Was aber ist ein Magenfeuer? In der klassischen Medizinliteratur, diese umfasst griechische und persisch-arabische Autoren, mittelalterliche Mediziner aus Salerno und Montpellier, volkssprachliche Autoren am Beginn der Neuzeit, Paracelsus, und Texte bis hinauf in die Barockzeit, nutzte man diese Metapher, um die Vorgänge der Nahrungsaufnahme anschaulich zu machen: Verdauung und Stoffwechsel sind ein "Kochvorgang" im Bauch, der durch ein "Magenfeuer" unterhalten wird.

Paracelsus (1493–1541) spricht hier vom "inneren Alchimisten", einer Manifestation der unsichtbaren Lebenskraft Archeus im Verdauungstrakt, der den Stoffwechsel antreibt. Die beiden Bilder "Magenfeuer" und "innerer Alchimist" überzeugten die breite Bevölkerung und waren Teil des Grundlagenwissens. Sie wurden in Gesundheitsratgebern aufgenommen, weil sie für die tägliche Ernährungspraxis von Bedeutung waren. Am richtig eingestellten Magenfeuer und inneren Alchemisten hing die Gesundheit. Ein überaktives oder erschöpftes Verdauungsfeuer oder ein entgleister innerer Alchemist produzierten Stoffwechselschlacken und führten in der Folge zu Erkrankungen, wie Paracelsus einschärft:

Paracelsus nach einem Kuperstich von Alois Hirschvogel von 1540.
Foto: Gemeinfrei

Gott hat uns einen Alchimisten gegeben, damit wir das Gift, das wir mit dem Guten einnehmen, nicht als Gift verzehren, sondern von dem Guten scheiden können. Das Gift steckt er in einen Sack und das Gute gibt er dem Leib. Dieser Alchimist hat im Bauche seinen Sitz, der sein Instrument ist, worin er kocht und arbeitet. Wenn der Alchimist krank ist, so dass er das Gift nicht mit vollkommener Kunst vom Guten zu scheiden vermag, dann geht Giftiges und Gutes gemeinsam in Verwesung über und dann entsteht eine Säfte-Entartung, und diese ist die Mutter aller Krankheiten. (Paracelsus, Volumen Paramirum 7)

Aus diesem Grunde war es für Köche und Köchinnen unabdingbar, nicht nur bei der Auswahl der Lebensmittel Kompetenz zu beweisen, sondern auch geeignete Kochstrategien umzusetzen. Dem Gastgeber oder der Gastgeberin kam die ehrenvolle Aufgabe zu, ein gewisses Repertoire von Aperitiven und Digestiven für Gäste bereitzuhalten. Pflicht des Konsumenten war es schließlich, selbst Gesundheitsverantwortung zu übernehmen und Maßnahmen einzuleiten, um den Verdauungsvorgang am Laufen zu halten und an sich ändernde Bedingungen anzupassen.

Kauanweisung

Für die Traditionelle Europäische Medizin (TEM) oder Klostermedizin beginnt Verdauung nicht erst im Magen, sondern bereits im Kochtopf: Kochen, Braten, Backen, Schneiden, Pürieren, Trocknen, Einweichen, Fermentieren und so weiter sind jeweils eine Art von Vorverdauung außerhalb des Körpers. Man könnte sagen, die Küche sei eine Art Alchemielabor, in dem Speisen für den menschlichen Leib aufgeschlossen werden, damit diese vom inneren Alchemisten übernommen und weiterverarbeitet werden können. Natürlich gibt es Nahrungsmittel, die am besten roh gegessen werden und durch Kochprozesse verlieren, aber gemäß der klassischen Ernährungslehre gewinnen die meisten Lebensmittel durch Kochkunst.

Mit dem Servieren der gekochten Speisen endet allerdings die Gesundheitsveranwortung der Küche und es beginnt die des Essers oder der Esserin. Die komplexen Verdauungs- und Assimilationsvorgänge zwischen Mundhöhle und Enddarm setzen nämlich ein gutes Durchkauen der Nahrung voraus. Es erstaunt daher nicht, dass Gut-Kauen-Sprichwörter in allen deutschen Dialektlandschaften variantenreich über Jahrhunderte belegt sind und auch in die medizinische Ratgeberliteratur Eingang gefunden hat. Bis heute verbreitet ist die Version:

Gut gekaut ist halb verdaut!

Die Sinnhaftigkeit dieser Regel untermauert die ernährungsmedizinische Forschung: Schlucken von großen Bissen macht nachweislich dick und krank. Richtiges Kauen schützt hingen vor dem Krankheitsquartett von Diabetes, Übergewicht, Bluthochdruck und Fettstoffwechselstörungen.

Würzwein: Hypocras und Claretum

Eine darüberhinausgehende angenehme Verdauungshilfe, die auf keinem gehobenen mittelalterlichen Tisch fehlen durfte, war ein Gewürzwein mit dem klingenden Namen Hypocras für die Rotweinversion, und dem Namen Claretum als Weißweinvariante. Das Grundrezept ist simpel: Ausgewählte Gewürze werden mit Zusatz von Honig (oder auch Zucker) in Wein für bis zu zehn Tage mazeriert. Hypocras und Claretum wurden nicht ausschließlich wegen der ihnen zugeschriebenen Heilwirkungen geschätzt. Bei Zimmertemperatur als Aperitiv und/oder Digestiv getrunken, bieten sie ein Geschmackserlebnis, das so ganz anders als Glühwein ist. Wegen der teuren Gewürze konnte man im Mittelalter mit Hilfe dieses Luxus-Getränks sein Prestige zum Ausdruck bringen. Dass man sich von diesem Getränk nichts desto trotz eine Gesundheitswirkung erwartete, kommt im Namen Hypocras selbst zum Ausdruck, denn dieser verweist auf den berühmtesten Hippokrates von Kos (460–370 v. Chr.). Übrigens hieß auch der große Stofffilter, mit dem man den Gewürzwein kolierte (abseihte), manica hippocratis, Ärmel des Hippokrates.

Gewürz- und Heilpflanzenweine haben eine lange Vorgeschichte. In der Naturgeschichte Plinius des Älteren (ca. 77 n. Chr.) finden sich drei Rezepte. Hildegard von Bingen (1098–1179) bietet in ihren Schriften ein beträchtliches Repertoire von Heilweinen. Der Ausbau in Richtung Gewürzwein zur Stützung des Magenfeuers und inneren Alchemisten ist hingegen eine Errungenschaft des hohen Mittelalters. Eines der ältesten Rezepte unter dem Titel Pur fait Ypocras bietet eine Sammlung von Kochrezepten am Hofe von König Richard II. von England, der man den Titel Forme of Cury gegeben hat und die um das Jahr 1390 niedergeschrieben wurde. Der Text formuliert zwar keine Zubereitungsanleitung, aber benennt immerhin Auswahl und Gewichtsanteile der Gewürze:

Hypocras Rezept aus der Sammlung Forme of Cury (Manchester, Eng. MS 7, fol. 87r).
Foto: Helmut W. Klug

Um Hypocras zu machen, nimm je drei Unzen Zimt und Ingwer, spanische Narde im Wert von einem Pfennig. Füge Galgant, Nelke, Langen Pfeffer, Muskat, Majoran, Kardamom hinzu, jeweils eine viertel Unze. Dann noch Paradieskörner und Zimtblüte, je eine zehntel Unze. Pulverisiere alles gut und benutze es.
(Forme of Cury 9.11)

In anderen (französischen, deutschen, italienischen und spanischen) Rezepten werden jeweils unterschiedliche Gewürzregister gezogen: Zimt/Zimtblüte, Ingwer, Galgant, Nelken, Kardamom, Muskat/Muskatblüte und Pfeffer sind in fast allen Rezepten zentral. Daneben kamen aber auch Safran, Paradieskörner, Koriander, Orangen- oder Rosenblüten, Anis, Fenchel und vieles mehr zum Einsatz. Als Getränk der gehobenen, genussvollen Gesundheitsküche hielt sich Hypocras lange. Allerdings wurde ihm seit dem Barock kaum mehr die einstige kulinarische und medizinische Bedeutung zugemessen. Eine historische Reminiszenz findet sich in Richard Strauss' Oper "Der Rosenkavalier", wo Faninal dem Baron Ochs auf Lerchenau anbietet: "Ein Schluck von was zu trinken! Ein Wein? Ein Bier? Ein Hippokras mit Ingwer?" Wer Faninals Angebot annehmen möchte, der darf sich ein eigenes Rezept erarbeiten!

Hypocras – Vorlage zur eigenen Improvisation

  • 1 Liter Wein
  • ca. 30 g Hypocras-Gewürzmischung aus getrockneten fein pulverisierten Gewürzen (wie oben beschrieben)
  • 3-4 Nelken (ganz)
  • 120-150 g Honig

Zubereitung: Den Ansatz für circa eine Woche mazerieren lassen, dann mehrmals hintereinander durch immer feinere Filter abfiltrieren, bis der Hypocras klar ist.

Herstellung von Hypocras mit Hilfe des namensgebenden Stoffsiebes (Ms Lat 993 L.9.28).
Foto: Helmut W. Klug

Aromatische Bitterstoffe – als Verdauungspulver oder Tinktur

Eine weitere Möglichkeit, das Magenfeuer und den Darm in Schuss zu halten, ist der Einsatz von Bitterpflanzen. Schon seit Urzeiten hatte man beobachtet, dass Heilpflanzen mit Bitterstoffen die Magentätigkeit und den Appetit anregen, die Leber- und Pankreastätigkeit verbessern, die Aufnahme Mineralstoffen unterstützen, positiv auf die Darmflora wirken und entgiftend sind. Die Intuitionen und Beobachtungen der alten Medizin sind inzwischen von der Forschung bestätigt worden: Amara (Bitterstoffe einzelner Bitterpflanzen) eignen sich zur allgemeinen Verdauungs- und Stoffwechselunterstützung. Zusätzlich können sie in die Behandlung von Anämie, Osteoporose, Abwehrschwäche, Erschöpfung, Autoimmunleiden, Allergien und Hautkrankheiten integriert werden. Bei akuten Entzündungen der Verdauungsorgane sind Amara kontraindiziert.

Das Reich der Bitterstoffe ist vielfältig: Amara pura sind Bitterkräuter, bei denen der Bitterstoff ganz im Vordergrund steht; Beispiele hierfür wären Artischocke, Enzian, Bitterklee, Fieberklee, Tausendgüldenkraut und Löwenzahn. Amara aromatica sind hingegen Bitterkräuter, die zusätzlich zu den Bitterstoffen noch weitere aromatische Komponenten enthalten, wie Erzengelwurz, Meisterwurz, Hopfen, Kalmus, Orangenschalen und Wermut. Amara acria besitzen schließlich, neben den Bitterstoffen, ausgeprägte Schärfenoten, wie etwa Ingwer und Galgant.

Mit diversen Heilpflanzen dieser drei Klassen wurden im Laufe der Jahrhunderte immer neue Magenbitter komponiert. Wegen des angenehmen Geschmacks rückte man die Amara aromatica in den Vordergrund und die Amara pura dezent in den Hintergrund, fügte Amara acria mit Bedacht hinzu und rundete die Komposition mit Gewürzen ab. In der Diätetikgeschichte stand über Jahrhunderte freilich nicht der heute beliebte alkoholische Magenbitter, also Schnaps, im Vordergrund, sondern eher das aromatische Bitterpulver. Berühmt und bis heute bewährt ist das Magenpulver der Paracelsus-Tradition, das ganz auf Kalmuswurzel und fünf Gewürze setzt:

Pulvis aromaticus stomaticus

  • Je 1 Teil Kalmuswurzel, Zimtrinde, Anisfrüchte und getrockneten Ingwer
  • Je ½ Teil Gewürznelken und Muskatblüte
  • Zubereitung: Die Drogen zu einem feinen Pulver vermahlen und in einem luftdichten Glas lagern

Einnahme: Circa 15 Minuten vor einer Mahlzeit eine Prise bis zu ½ TL des Pulvers direkt in den Mund geben, einspeicheln, schlucken und Wasser nachtrinken. Oder die Prise in ein Glas geben, mit trinkwarmem Wasser aufschwemmen und den Ansatz trinken.

Aufgrund der technischen Weiterentwicklung der Destillation seit dem späten Mittelalter nahm dann allerdings die Produktion von Alkoholika zu, gerade auch zur Pflege des inneren Alchemisten und Anregung der Vitalkräfte. Die modernen Destillationsprodukte erachtete man als besonders heilkräftig; sie verdrängten die immer mehr als altmodisch empfundenen Verdauungspulver und Hypocras-Zubereitungen. Gelegentlich verlieh man diesen Lebenselexieren (aqua vitae) einen "alchemistischen Touch" durch die Zugabe von Goldblättchen, und vertrieb das Produkt als aurum potabile oder Güldenwasser.

Ein besonders beliebtes, mit Gold veredeltes Destillat aus Kardamom, Koriander, Anis, Zitronen- und Pomeranzenschalen, Wacholderbeeren, Kümmel, Lavendel, Zimt, Selleriesamen und Muskatblüte machte unter dem Namen "Danziger Goldwasser" Karriere: Über Jahrhunderte war es ein lokales Apothekenprodukt aus Danzig, bis der niederländische Einwanderer und Danziger Neubürger Ambrosius Vermöllen auf die Idee kam, es industriell zu produzieren. 1598 gründete er seine Fabrik und begann das Elixier international zu vertreiben. Wer nun keine Brennanlage sein Eigen nennt, aber dennoch das Elixier ausprobieren möchte, der kann zu einer haushaltstauglichen Adaption greifen, die ohne Destillation auskommt.

Danziger Goldwasser

Zubereitung: Je ein Teelöffel Kardamom, Koriander und Sternanis, zusammen mit einer Hand voll Rosenblüten, einer Stange Zimt, fünf Gewürznelken, einigen Wacholderbeeren, einer Prise Muskatblüte sowie einigen Zitronen- und Pomeranzenschalen-Stücke in 0,7 Liter Schnaps (zum Beispiel Korn) und 100 g braunem Zucker ansetzen. Das Gemisch 40 Tage ausziehen lassen und dabei täglich schütteln; anschließend filtrieren. Nach Wunsch etwas Blattgold hinzufügen, das bei vorheriger sanfter Bepuderung des Goldes mit ganz wenig Speisestärke sogar im Elixier schwebt.

Anwendung: täglich ein bis zwei kleine Schnapsgläschen kurz vor dem Essen.

Danziger Goldwasser
Von Goldwasser Gdansk - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0

Moortrunk

Ein letztes Mittel des Verdauungsfeuermanagements überschreitet den Bereich der Kulinarik, obwohl es getrunken wird: Heilmoor. Was beim ersten Lesen unappetitlich klingen mag, entpuppt sich beim Probieren als harmlose Angelegenheit: Trinkmoor ist völlig geschmacklos und hat ein angenehmes Mund- und Schluckgefühl. Um die Heilwirkung des Trinkmoors zu verstehen, muss man die Genese von Moor rekapitulieren: Moor ist das Ergebnis von Fermentationsprozessen aus Pflanzen, Kräutern und Mineralien über Jahrtausende. Moor enthält, anders als Heilerde, neben anorganische auch organische Bestandteile, etwa diverse Huminsäuren. Ein Moortrunk ist daher ein ausgezeichnetes Mittel zur Darmsanierung und Ausbalancierung des Immunsystems: Moor bindet Toxine, unterstützt eine ausgewogene Darmflora (Mikrobiom) und hat über den Darm auch positive Effekte auf Leber und Niere.

Für einen Moortrunk gibt man 1 EL Trinkmoor in ein Glas, gießt mit etwas Wasser auf und trinkt den Ansatz (mit einem mindestens einstündigen Abstand zu eventuellen anderen Medikamentengaben). Um einen Moortrunk kurmäßig für zwei Wochen auszuprobieren, muss man sich nicht unbedingt ein Heilmoor zulegen und Torf stechen, sondern man kann Moorzubereitungen im Fachhandel beschaffen – etwa bei AquaSalutis, der Manufaktur für Produkte der Klostermedizin.

Verdauung gut, alles gut

Die diversen Möglichkeiten des Magenfeuermanagements – gutes Kauen, Gewürze, Bitterstoffe und Moortrunk – waren über Jahrhunderte in Gebrauch und sind von den damaligen Menschen als hilfreich erachtet worden. Was aber ist dazu aus der Warte der heutigen Medizin zu sagen? In den letzten zehn Jahren hat die Erforschung der menschlichen Darmflora (das sogenannten "Mikrobiom") und Studien aus dem Bereich der Ernährungsphysiologie zahlreiche Belege erbracht, dass die alte Ernährungsmedizin vollkommen richtig lag: Mit gutem Kauen, dem regelmäßigen Einsatz von Gewürzen und Bitterstoffen in der täglichen Ernährung sowie dem kurmäßigen Gebrauch des Moortrunks kann man sich tatsächlich nachweislich Gutes tun – zunächst zur Vorbeugung, aber nach Rücksprache mit dem Arzt oder einer Ernährungsfachkraft auch bei Verdauungsproblemen. (Karl Steinmetz, 9.8.2021)

Literatur:

  • Karl-Heinz Steinmetz und Regina Webersberger: Traditionelle Europäische Medizin. Altes Heilwissen zeitgemäß anwenden, Styria Wien 2019
  • Olaf Rippe, Margret Madejski u.a.: Parcelsusmedizin. Altes Wissen in der Heilkunst von heute, AT-Verlag Aarau 2001.
  • Reinhard Saller, Bernhard Ueleke u.a.: Phytotherapeutische Bittermittel, in: Schweizerische Zeitschrift für Ganzheitsmedizin 2009;21(4):200–205.

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