Tom Schilling als fragiler, durchlässiger Held in einer Welt des Wandels: großes Gegenwartskino.

Foto: Hanno Lentz / Lupa Film

Rund um 1930 herrscht in der deutschen Literatur ein gewisses Gedränge. Es häufen sich die Figuren, in denen man im Rückblick das Scheitern der Weimarer Republik als angelegt erkennen möchte: der arme Franz Biberkopf in Berlin Alexanderplatz, das kunstseidene Mädchen Doris in dem Roman von Irmgard Keun oder der Literaturwissenschafter Jakob Fabian, über den Erich Kästner einen Roman mit dem Titel Der Gang vor die Hunde schrieb.

Faszinosum einer Epoche

Da war die Prognose schon fast mit Händen zu greifen. Der Verleger setzte einen weniger bitteren Buchtitel durch: Fabian. Der Vorname, der hier ein Nachname ist, wurde zu einer Chiffre für eine intellektuelle Distanz, die wohl das Unheil kommen sieht, ihm aber nichts entgegenzusetzen weiß. Auch nach dem Krieg lasen die Deutschen fleißig Fabian, 1980 gab es von Wolf Gremm eine vergleichsweise großangelegte Verfilmung. 2013 legte Sven Hanuschek eine Rekonstruktion der ursprünglichen Buchfassung vor. Und nun fasst Dominik Graf mit Fabian und Der Gang vor die Hunde alles zusammen: Er geht zurück zur Quelle, also zum Text, und schöpft zugleich aus dem ganzen Faszinosum einer Epoche, die man vielleicht am besten als Berliner Moderne bezeichnen könnte. Die Fernsehserie Babylon Berlin hat diese Zeit zuletzt wieder populär gemacht und ihr mit der Petrischale ihrer Vorspannsequenz ein Sinnbild verschafft: 1929 und die Folgejahre als Labor, aus dem das schrecklichste aller Viren entweicht, das Ressentiment.

Die Geliebte ans Kino verlieren

Bei Dominik Graf gibt es aber auch noch einen anderen Kontext als das Faschismusorakel. 2014 hat er einen Film über die Weimarer Klassik gemacht: Die geliebten Schwestern, das waren Charlotte und Caroline von Lengefeld, die beide auf vertrautem Fuß mit Friedrich Schiller standen. Am Ende stand damals eine wenig beachtete Pointe: Aus der Zeit von Goethe und Schiller zählen nicht so sehr die kanonischen Werke, wichtiger ist vielleicht ein Zettel, auf den jemand etwas notiert hat, was erst ein kühner Kostümfilm offenlegt.

KinoCheck Indie

Jakob Fabian hat bei Graf auch ein Notizbuch. Er ist schließlich mit dem Leben befasst, "eine der interessantesten Beschäftigungen, trotz alledem". Er lebt aber auch ein bisschen wie nebenbei, will sich nicht zu stark hineinziehen lassen in den Trubel von Berlin. Das ändert sich, als er Cornelia kennenlernt, eine junge Angestellte mit Potenzial. Nicht nur Fabian sieht in ihr einen Filmstar. Er ahnt aber auch, dass er die Geliebte an das Kino verlieren könnte. In einer der schönsten Szenen von Grafs Film geht Cornelia mit einem Text zu einem Casting, den sie aus Fabians Notizbuch hat, er hat ihr eine Seite herausgerissen und geschenkt. Es ist das Gedicht ihres Abschieds, es zerreißt sie fast, als sie es vorträgt, aber sie bekommt die Rolle. Mit dieser Idee fügt Dominik Graf seiner Literaturverfilmung etwas Wichtiges hinzu. Denn der Text von Kästner ist betont ein bisschen schnoddrig, es gibt viele großartige Passagen; aber es dominiert eben eine gewisse Beiläufigkeit, die nicht einmal ironisch ist, sondern einfach Selbstschutz durch Zurückhaltung.

Provisorischer Charakter

Dominik Graf aber macht aus Fabian großes Kino, und zwar in einem anderen Sinn, als es die Branchenwerbung meint. Dass er die Liebesgeschichte stark überhöht und zugleich auf eine Zettelkommunikation zwischen zwei vom Strudel des "provisorischen Charakters" ihrer Zeit Fortgerissenen hinauslaufen lässt, ist das eine. Er geht aber auch medientechnisch auf das Ganze dieser Jahre. Die Zeit nach 1918 wurde oft als eine der Schocks beschrieben. An jeder Haustür konnte einem in den erleuchteten Städten damals etwas passieren, was einen durcheinanderbrachte. Dominik Graf fängt dieses Grundgefühl mit einer sprunghaften Montage ein, mit flirrenden Bildern, manchmal mit visuellen Reimen, die sich erst ganz vom Ende her erschließen.

Tom Schilling spielt einen fragilen, durchlässigen Helden in einer Welt, in der vieles auf ihn einprasselt. Und in dieser Spannung zwischen einer sensiblen Empfänglichkeit und einer kaleidoskopischen Welt wird Fabian oder Der Gang vor die Hunde zu einem großen Film auch für 2021 und Folgejahre. (Bert Rebhandl, 4.8.2021)