Ungarn ist stolz auf seinen Zaun. Ganz dicht ist er aber nicht.

Foto: imago images/ZUMA Wire

Sie sind, ihrer Ideologie nach, auf den ersten Blick grundverschieden. Viktor Orbán, selbsternannter Verteidiger des christlichen Europas gegen die angebliche Gefahr, die von Migranten ausgeht. Und Tayyip Erdoğan, Galionsfigur der islamischen AK-Partei und bisher der Aufnahme Geflüchteter aus muslimischen Staaten zugetan. Trotzdem sind die beiden nicht nur politisch gut befreundet. Die autoritär-konservative Ader verbindet.

Nun sind es die Länder, die von den beiden geführt werden, die am öftesten genannt werden, wenn es um die Frage geht, wieso nun wieder mehr Flüchtlinge und Migranten an den Grenzen Österreichs aufgegriffen werden. Vor allem im Burgenland, so warnt Landeshauptmann Hans Peter Doskozil, sei ja wieder ein Zuwachs zu verzeichnen.

Stacheldraht kein Hindernis

Wie kann das aber sein, aus Ungarn – einem Land, das sich mit drakonischen Gesetzen abschottet und einen Zaun zu Serbien immer wieder stolz präsentiert? Tatsächlich gibt es ihn, und er ist auch immer noch in Betrieb. Er ist drei bis fünf Meter hoch und wird von rasiermesserscharfem Stacheldraht gekrönt. Elektrische Signalanlagen sollen Durchbrüche umgehend melden. Auch Drohnen und Wärmebildkameras setzen die Sicherheitskräfte ein.

Aber: Dennoch überwinden Flüchtlinge immer wieder den Grenzzaun. Entweder schneiden sie sich mit Zangen einen Weg durch das Hindernis oder graben sich darunter durch. Die meisten von ihnen vermag aber die Polizei schon nach kurzer Zeit auf ungarischem Territorium zu stellen. Sie schiebt sie ausnahmslos über die serbische Grenze zurück – das gilt auch für jene, die in Ungarn aufgegriffen werden. Selbst dann, wenn sie aus Rumänien gekommen sind, zu dem Ungarn keinen Zaun hat.

Druck auf die AKP

Nach ungarischer Lesart schreiben das die ungarischen Gesetze so vor. Nach Völkerrecht und EU-Recht ist es illegal. Dennoch schaffen es immer wieder Menschen bis nach Österreich – und eben immer mehr.

Das hat auch damit zu tun, dass sich wieder mehr auf den Weg machen. Rund tausend sollen es derzeit allein aus Afghanistan sein, die täglich in die Türkei kommen, schätzt der Economist, der sich seinerseits auf örtliche Quellen beruft. Grund ist die Sicherheitslage in ihrer Heimat – die sich freilich in den nächsten Monaten, nach dem Rückzug der USA, noch weiter verschärfen wird. Viele weitere kommen immer noch aus Syrien. Und sie werden von der Regierung in Ankara längst nicht mehr so freundlich aufgenommen, wie das früher der Fall war.

Denn Erdoğan steht auch innenpolitisch unter Druck. Wirtschaftskrise, Covid, politische Ungeschicklichkeit machen seiner AKP und dem persönlichen Image des Präsidenten zu schaffen. Die Opposition hat indes das Thema Flüchtlinge für sich entdeckt. Sie wirft der AKP vor, durch die Beherbergung der religiös oft konservativen Zuwanderer die teils noch säkulare Gesellschaft der Türkei untergraben zu wollen. Und sie verweist auf die hohen Arbeitslosenzahlen, die es auch in der Türkei mittlerweile wieder gibt. (Manuel Escher, Gregor Mayer, 3.8.2021)