Fahrrad oder Auto? Jahrelang galt dies als Glaubensfrage. Inzwischen herrscht weitgehend Konsens, dass die Bedingungen fürs Radfahren verbessert und Autos mit ihren schädlichen Abgasen zurückgedrängt werden müssen. Es geht schließlich um die Rettung des Klimas – und ja, auch um die Gesundheit der Stadtbewohner. Allerdings gibt es nach wie vor die Autolobby, die auf dem Status quo beharrt.

Eine moderne Metropole braucht durchdachte Konzepte im Radverkehr, um die Menschen für dieses nachhaltige Fortbewegungsmittel zu begeistern. Die Stadt Wien hat sich ambitionierte Ziele gesetzt. Ab nächstem Jahr stehen laut rot-pinkem Regierungsprogramm jährlich 20 Millionen Euro mehr als bisher für Radinfrastrukturprojekte zur Verfügung.

Wien als Metropole des Radfahrens? Dafür sind noch einige Schritte notwendig.
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Doch wo soll man das Geld am besten einsetzen? Wie können die Menschen zum Umstieg aufs Fahrrad motiviert werden? Und was kann man von internationalen Vorbildern lernen? Von breiteren Radwegen, finanziellen Anreizen bis hin zur Stadt der 15 Minuten: Expertinnen und Experten aus Österreich, Deutschland und Dänemark geben Empfehlungen ab und stellen Best-Practice-Modelle vor.

1. Sichere Radwege

Es klingt simpel – und ist es auch. Damit die Menschen das Fahrrad als Fortbewegungsmittel nutzen, müssen die Radwege sicher sein. Viele meiden die Art der Fortbewegung noch, weil sie Angst davor haben, mit dem Fahrrad in Straßenbahnschienen steckenzubleiben. Weil sie nicht von Autofahrern geschnitten werden wollen. Oder weil sie fürchten, in eine Autotür zu brettern, die ein Parkender just in der Sekunde aufschwingt, in der man mit dem Fahrrad vorbeirollt. "Dooring" nennt man dieses Phänomen.

Was also tun? In den Niederlanden und Dänemark hat man dafür eine Lösung: baulich abgetrennte Radwege. Dadurch hat jeder Verkehrsteilnehmer seinen Platz im Straßenraum zugewiesen, erläutert Marianne Weinreich, Smart-Mobility-Expertin aus Kopenhagen. Fußgänger, Radler, Pkw-Fahrer – jeder kann in seinem Tempo unterwegs sein. Schließlich sind es gerade die Unterschiede in der Fahrgeschwindigkeit, die häufig Probleme verursachen.

Getrennte Zonen für die verschiedenen Verkehrsteilnehmer sind das Erfolgsgeheimnis in Städten wie Kopenhagen.
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Auch die deutsche Verkehrswissenschafterin Angela Francke betont, wie wichtig es ist, dass der Radverkehr einen eigenen Platz im Verkehrsraum hat: "Die Infrastruktur muss sicher und ausreichend breit gestaltet sein", sagt die Professorin für Radverkehr an der Hochschule Karlsruhe. Eine Steigerung der Radverkehrszahlen dürfe nicht direkt wieder zur Enge auf den Anlagen führen. Diese sollten auch für neue Formen des Fahrrads, etwa Lastenräder, bequem nutzbar sein.

Die Technische Universität Wien hat im Vorjahr im Auftrag der Mobilitätsagentur erhoben, auf welchen Straßenzügen eine sichere Radverkehrsinfrastruktur den Anteil des Radverkehrs in Wien am meisten heben würde. Es finden sich sehr bekannte Straßen unter den topgereihten, etwa die Währinger Straße, die Hernalser Hauptstraße oder die Wallensteinstraße. "Welche Strecken ausgebaut wurden, definierte bisher das gerade noch politisch Machbare und weniger eine fachliche Prioritätenreihung", sagt Wiens Radverkehrsbeauftragter Martin Blum. Für einzelne wichtige Radwege, wie jenen auf dem Getreidemarkt, seien politische Kraftakte nötig gewesen. Und als für den Radweg an der Wienzeile beim Naschmarkt den für Autos reservierten acht Spuren zwei weggenommen wurden, gab es massive Proteste.

Diese Beobachtung teilt auch die Wiener Mobilitätsexpertin Angelika Rauch. "Man muss es politisch wollen", sagt sie auf die Frage, warum der Bau neuer Radwege so viel Zeit brauche. "Wir haben jahrzehntelang autogerechte Städte gebaut, jetzt müssen wir auf menschengerechte Städte umstellen." Dazu gehöre auch, Parkplätze rückzubauen. "Davor schrecken aber viele zurück."

2. Stadt der kurzen Wege

Kurze Strecken eignen sich besonders, um Rad zu fahren. Ein Auftrag an Stadtplaner sollte also sein, dass alle wichtigen Einrichtungen innerhalb weniger Kilometer erreichbar sind. "Radfahren ist eine aktive Mobilitätsform", sagt Angela Francke. Das habe zur Folge, dass Strecken mit geringen Umwegen und einer kurzen Fahrzeit das Fahrrad im Alltagsverkehr attraktiv machen. Ist die Strecke auch noch schön zu fahren, zum Beispiel durch einen Park, werde sie gerne genutzt.

Für Überlegungen wie diese gibt es bereits das Modell der 15-Minuten-Städte. Die täglichen Aktivitäten sollen alle innerhalb von 15 Minuten des Zufußgehens oder Radfahrens erledigt werden können. In Zeiten der Pandemie, wo wir mehr als sonst auf unser direktes Umfeld angewiesen sind, hat das Konzept Aufwind erhalten. Man meidet öffentliche Verkehrsmittel und verbringt im Homeoffice mehr Zeit im eigenen Grätzel.

In Paris war es die Bürgermeisterin Anne Hidalgo, die die 15-Minuten-Stadt zum Wahlkampfversprechen machte. Geschäfte, Sporteinrichtungen, medizinische Versorgung, Kulturinstitutionen, der Arbeitsplatz, aber auch Erholungsräume sollten alle innerhalb eines kleinen Radius erreichbar sein – ohne auf ein Auto angewiesen zu sein. Als Vordenker gilt der französisch-kolumbianische Experte für die Stadt der Zukunft, Carlos Moreno. Menschen sollen bei der Planung im Vordergrund stehen, betont er, nicht Autos.

Paris ist auf dem Weg, die Verkehrswende zu schaffen. Statt Autos fahren jetzt Räder an der Seine.
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Paris gilt derzeit als Vorzeigestadt, was Umwälzungen in der Nutzung des Straßenraums betrifft. Hildalgo verändere die Stadt, "um sie fußgänger- und radfahrerfreundlicher zu machen, den Autoverkehr zu reduzieren und die Luft sicherer zum Atmen zu machen", lobte etwa der US-Umweltaktivist Al Gore die Pariser Bürgermeisterin.

Kann Paris als Vorbild für Wien gelten? "Nur bedingt", sagt Angelika Rauch. Bei der Schaffung von mehr Platz für Radfahrer und Fußgänger gehe es auch darum, Parkplätze freizugeben. Das sei in Paris einfacher gewesen, weil öffentliche Parkplätze immer schon stärker beschränkt gewesen seien. Generell sei es schwierig, ein Konzept 1:1 auf eine andere Stadt umzulegen. Die Erfahrungen aus Paris würden allerdings zeigen, dass die Leute Veränderungen annehmen – wenn sie erkennen, welche Vorteile von Autos befreite Flächen bringen.

3. Mobilitätsmix und Sharing

Solange die Stadt der kurzen Wege noch nicht umgesetzt ist, muss Sorge dafür getragen werden, dass die verschiedenen Möglichkeiten, wie man sich in der Stadt fortbewegen kann, gut ineinandergreifen. So sei zum Beispiel die Fahrradmitnahme in Bussen oder Zügen zu forcieren, sagt Angela Francke.

Die deutsche Mobilitätsforscherin Lisa Ruhrort schlägt ein "multioptionales Mobilitätssystem" vor. Je nach zurückzulegendem Weg soll das geeignete Verkehrsmittel gewählt werden können – oder eine Kombination daraus. Fährt man in der Früh mit der U-Bahn in die Arbeit, weil es regnet, so kann man am Nachmittag auf dem Nachhauseweg auf ein Leihfahrrad zurückgreifen, wenn in der Zwischenzeit die Sonne herausgekommen ist.

In Verbindung mit der Nutzung eines Smartphones sollte die Abwicklung von Buchungen für die Sharing-Fahrzeuge eigentlich keine Hürde mehr darstellen, sagt Ruhrort.

4. Tempolimits ausweiten

Je langsamer Fahrzeuge in der Stadt unterwegs sind, umso weniger Unfälle passieren. Eine flächendeckende Temporeduktion würde insgesamt die Verkehrssicherheit erhöhen. Das zeigen auch internationale Beispiele. In Spanien ist Tempo 30 in allen Städten vorgegeben worden, sagt Angela Francke von der Hochschule Karlsruhe.

Die Straßenverkehrsordnung in Wien bietet an sich gute Möglichkeiten, den Straßenraum für sich zu nutzen. Zum Beispiel über Wohnstraßen, wo das Betreten der Fahrbahn und das Spielen gestattet sind und Autofahrer nur mit Schrittgeschwindigkeit fahren dürfen.

Martin Blum erinnert in dem Zusammenhang daran, dass erst in den "letzten 60, 70 Jahren die Umgestaltung hin zum Pkw" stattgefunden hat: "Schrittweise wurde das zur neuen Normalität." Früher hätten Kinder auf der Straße gespielt. Er appelliert, an einer Umkehr zu arbeiten und den Raum den Menschen zurückzugeben.

5. Frauen, Kinder, Senioren am Rad

In den Niederlanden und Dänemark nutzen Frauen und Männer zu gleichen Teilen das Fahrrad. Marianne Weinreich sieht darin ein Indiz dafür, dass eine hohe Fahrsicherheit gegeben ist. In anderen Ländern ist das Verhältnis oft 30 zu 70, da Frauen das Risiko meiden. Es sei deshalb wichtig, bei der Planung die "gefährdeten Gruppen" im Blick zu haben. Weinreich empfiehlt, Kinder von klein auf an das Radfahren heranzuführen und sie etwa auf dem Kindersitz mitzunehmen, damit sie sich an die Art der Fortbewegung gewöhnen. Angelika Rauch postuliert, die Radwege für alle Altersgruppen zu gestalten und sie nicht nur jenen, die sich trauen, vorzubehalten: "Alle sollen Rad fahren können, auch Kinder auf dem Weg in die Schule."

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Auch Kinder und Ältere sollen sich beim Radfahren im Straßenverkehr sicher fühlen.
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Martin Blum hebt Förderprogramme hervor, die es bereits in Wien gibt. So können Volksschulklassen kostenfreie Radfahrkurse machen – zu buchen auf fahrradwien.at. Für Erwachsene biete man in Kooperation mit dem ÖAMTC Kurse an.

Um Kinder langfristig für das Fahrrad begeistern zu können, empfiehlt Angela Francke, den Spaß am Radfahren zu erhalten. Eltern sollten zudem das Fahrradfahren vormachen und mit dem Rad möglichst viele alltägliche Wege erledigen.

6. Finanzielle Anreize

Sogar beim Diskonter kann man mittlerweile in Österreich Lastenfahrräder mit Elektroantrieb kaufen. Sie sind nicht nur praktisch, um Einkäufe zu transportieren, sondern bieten in der Regel auch die Möglichkeit, Kinder in den Lastenkörben mitzunehmen. Die öffentliche Hand fördert den Erwerb von Lastenrädern. Für Private ist der Fördertopf in Wien bereits ausgeschöpft, 800.000 Euro stehen im Zeitraum 2020 bis 2021 aber für Unternehmen zur Verfügung, die Lastenräder anschaffen. Auf Bundesebene fördert das Klimaschutzministerium den Kauf von E-Transportfahrrädern für Betriebe, Vereine, Gemeinden und Privatpersonen. Sie werden mit bis zu 1.000 Euro gefördert.

Angelika Rauch plädiert dafür, dass nicht nur die öffentliche Hand, sondern auch Arbeitgeber es unterstützen sollten, wenn Mitarbeiter zu Fuß oder per Rad in die Firma kommen. "Die Krankenstandstage reduzieren sich nachweislich", wenn die Mitarbeiter regelmäßig Bewegung machen.

7. Bessere Stellplätze

Wenn man forcieren möchte, dass die Menschen vermehrt mit dem Fahrrad unterwegs sind, gehört es auch dazu, "über die ganze Reise nachzudenken", sagt Marianne Weinreich. Das bedeutet, man müsse auch gute Parkmöglichkeiten zur Verfügung stellen. Firmen sollten ihren Mitarbeitern außerdem Möglichkeiten anbieten, sich umziehen und duschen zu können oder aber auch die nass gewordene Kleidung zum Trocknen aufzuhängen. In den Abstellanlagen, die auch von der öffentlichen Hand zur Verfügung gestellt werden könnten, sollten die Fahrräder vor Diebstahl sicher sein.

Das Rad im Parkhaus unterstellen, wie hier in Utrecht. Gute Abstellplätze erleichtern den Umstieg.
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Mit gutem Beispiel gehen hier einmal mehr die Niederlande voran. In Utrecht wurde vor einigen Jahren eine große Parkgarage auf drei Etagen im Zentrum der Stadt errichtet. Sie bietet Platz für 12.500 Räder, ist rund um die Uhr geöffnet und wird bewacht. Man kann sich vor Ort auch Leihräder ausborgen. Das Abstellen der Fahrräder ist in den ersten 24 Stunden gratis, danach ist eine geringe Gebühr zu entrichten.

8. Bewusstsein für Sport schaffen

Zu guter Letzt kann es gelingen, den Anteil der Radfahrer zu erhöhen, wenn man an die Beweglichkeit der Menschen appelliert. "Wir müssen auch den gesundheitlichen Nutzen des Radfahrens noch mehr in den Vordergrund stellen", sagt Fahrradbeauftragter Martin Blum.

"Sitzen ist das neue Rauchen", warnt Marianne Weinreich. Auch sie plädiert für mehr Bewegung im Alltag, das Radfahren eigne sich gut dafür. Die jahrzehntelang autozentrierte Planung hingegen habe viele Probleme mit sich gebracht. Die schlechte Luftqualität setze den Menschen zu.

Auch Angelika Rauch hebt die Bedeutung von Sport im Alltag hervor. Gleichzeitig dürfe man sich davon nicht abschrecken lassen, auch wenn man Bilder von Rennradfahrern oder Mountainbikern im Kopf habe und sich denke, da könne man nicht mithalten. Gesundheitsfördernd sei die normale Alltagsbewegung allemal – man müsse sich dabei nicht mit Spitzensportlern messen. (Rosa Winkler-Hermaden, 17.8.2021)