Hella Jongerius schätzt das Unperfekte: Geschirr, bei dem jedes Teil etwas anders aussieht, Sofas, die dank asymmetrischer Elemente wie eine optische Täuschung wirken.

Unter anderem damit ist es der 57-Jährigen gelungen, zur wichtigsten Produktdesignerin Hollands aufzusteigen – und als eine der wenigen Frauen im Geschäft weltweit große Anerkennung zu genießen. Bei Vitra fungierte sie als Materialverantwortliche, für Ikea hat sie Vasen entworfen und für den New Yorker Stoffhersteller Maharam Möbelbezüge.

Der Webstuhl als Computer

Auf dem Salon du Meuble in Paris wurde sie 2004 als erste Frau überhaupt zur Designerin des Jahres gewählt. Ihre Stücke wurden bereits im MoMA und dem London Design Museum ausgestellt. In ihrer Wahlheimat Berlin hat sie nun eine Ausstellung über Webverfahren eröffnet, Kosmos weben läuft noch kurze Zeit im Martin-Gropius-Bau.

Die Designerin Hella Jongerius gehört zu den ganz Großen und entwarf unter anderem für Vitra, die Uno, Ikea und Maharam.
Foto: Nick Ballón for Maharam

Hella Jongerius vergleicht einen Webstuhl mit einem Computer, für beide Geräte bräuchte man ein abstraktes Vorstellungsvermögen. So hängen in Berlin zuerst gewebte und dann zu Würfeln gefaltete Kunststoffstreifen an der Wand, in denen Solarzellen eingebettet sind. Scheint die Sonne darauf, poppen sie auf. "Ich versuche damit zu erklären, wie uns solche Produktionsprozesse in der Zukunft helfen können", sagt sie.

Klarer Realitätsbezug

Ist das nun eine überspannte Ideenblase, in der sich Jongerius bewegt, während die gesamte westliche Welt über Homeoffice-Lösungen nachdenkt, welcher Schreibtisch vielleicht besser zu welcher Wandfarbe passt? Oder liegt die Designerin am Ende damit ganz vorn, weil sie bereits Visionen für eine postpandemische Welt teilt?

Für Hella Jongerius hat die Ausstellung einen klaren Realitätsbezug. "Inzwischen können wir mit Maschinen dreidimensional weben", erklärt sie, "daraus entstehen dicht gewobene Strukturen, die für Stützsysteme oder Wände in Wohnungen dienen." Und damit ließe sich der Anteil von ökologisch bedenklichen Baustoffen wie Beton reduzieren. Keine Spinnerei, sondern dringende Zukunftsforschung, findet sie.

Bloß kein Shit-Design

Diese manchmal verkopfte Art, über Gestaltung zu denken, entspricht dem Arbeitsethos von Hella Jongerius: Bloß nichts Banales und Halbgares! Bloß kein Shit-Design! So hat sie es vor einigen Jahren in einem Manifest gefordert, das in der Branche ziemlich viel Aufmerksamkeit erregte. "In meinem Berufszweig wird zu viel gestaltet, um die Wirtschaft am Laufen zu halten", sagt sie. "Neue Produkte kommen auf den Markt, damit sich das Rad des Kapitalismus weiterdreht. Ich glaube, wir Designer haben eine Verantwortung, darauf zu achten, dass unsere Entwürfe einen Zweck erfüllen, dass sie einen sehr triftigen Grund haben, produziert zu werden."

Die Lounge der Vereinten Nationen in New York gestaltete Hella Jongerius gemeinsam mit Rem Koolhaas.
Foto: Frank Oudeman

Auf das Schlüsselwort "neu", das in jedem Katalog die saisonalen Kollektionen ankündigt, reagiert sie inzwischen allergisch. "Es hat keine Substanz, sagt nichts über die Qualität von Design aus." Müsse sie dann nicht gleich ihren Job an den Nagel hängen, wenn sie nichts mehr erfinden darf? Moment, jetzt wird Hella Jongerius leidenschaftlich. "Ich meine nicht, dass nichts mehr auf den Markt kommen darf. Aber zu oft wird das Adjektiv nur als Marketingtrick benutzt, um den Menschen etwas zu verkaufen." Wenn es nur noch darum gehe, werde Design als Disziplin inhaltsleer, meint Jongerius.

Verbraucher in die Pflicht nehmen

Die Schuld an der Produktbesessenheit trägt aber bei weitem nicht die Industrie allein. "Auch die Verbraucher nehme ich in die Pflicht", sagt die Designerin. "Beispielsweise könnten sie doch auf Wegwerfprodukte verzichten. Diese Becher, Bestecke und Teller aus Plastik, die nach dem Picknick im Müll landen, finde ich furchtbar. Benutzen, beschmutzen, entsorgen. Das können wir uns nicht leisten." Die SUP-Boards, die sich im vergangenen Sommer viele Menschen zugelegt haben, um ganz pandemiegerecht über die brandenburgischen Seen zu schippern, seien doch vor allem eines: ein riesiges Stück Plastik! Man spürt bei ihr die Inbrunst einer Vivienne Westwood, die in einer artverwandten Kunstform, der Mode, seit Jahren dasselbe fordert: Kauft weniger!

Und denkt nach, was gekauft wird! Beim Essen funktioniere das bereits, wenn die Menschen über Billigfleisch und Treibhausgemüse meckern, glaubt Jongerius. Warum soll der Slow-Food-Ansatz nicht auf Design übertragbar sein? Dass wir genauer hinschauen, aus welchen Materialien ein Produkt besteht. Dass wir einen Stuhl, einen Fernseher, einen Tisch achtsam behandeln: "Kaufen Sie Dinge, die eine höhere Haltbarkeit haben! Säubern Sie diese regelmäßig, geben Sie diese zur Reparatur, wenn sie kaputt sind!" Das könnte eine Lehre aus der Pandemiezeit sein: Die Dinge sollen wieder wertgeschätzt werden. Nur so könnten wir eine Beziehung zu ihnen aufbauen, die eigentlich "unsere stummen Partner im Leben" seien, sagt die Designerin.

Tischlerlehre und Designstudium

Von der Hippie-Verehrerin zur Gestaltungsinstanz war es ein langer Weg. Als Kind wuchs Jongerius auf einer Tomatenfarm bei Utrecht auf, "echte Wasserbomben", erinnert sie sich. Mit ihren Freundinnen übte sie Makramee, jene Knüpftechnik aus dem Orient, die gerade wieder für Blumenampeln en vogue ist.

Die Gestalterin und ihre Arbeit
namens "Woven Cosmos".
Foto: Laura Fiorio

Abends schlief das Mädchen mit Blick auf die rosa- und lilafarbenen Blumenmuster auf ihrer Tapete ein, malte sie im Kopf nach und träumte davon, ein Hippie-Mädchen in Amsterdam zu werden. "Sie schienen sehr frei zu sein, machten den ganzen Tag nur, was sie wollten", erzählt Jongerius. "Das wollte ich auch."

Nach der Schule absolvierte sie eine Tischlerlehre und begann anschließend das Designstudium in Eindhoven. 1993 schloss sie sich dem berühmt-berüchtigten Kollektiv "Droog Design" an, das mit konzeptuellen Ideen Aufmerksamkeit erregte: Bänke aus Baumstämmen, Lampen aus Milchflaschen. "Es war eine Reaktion auf die Designwelt um uns herum, als es entweder spiegelblanke Entwürfe von Philippe Starck gab oder diese kräftigen Farben des Memphis aus Italien." Droog brachte das künstlerische, spielerische Element zurück ins Produktdesign.

Keine Geheimverhandlungen

Aus dieser Zeit hat sie ihr kreatives Motto beibehalten: "Es ist nicht das Produkt, das mich interessiert, sondern die Herausforderung, innerhalb enggesteckter Parameter einen neuen Ansatz zu finden." Als Beispiel nennt sie ihr Projekt für die UN-Lounge in New York, die sie 2013 zusammen mit dem Büro von Rem Kohlhaas entworfen hat. Es durften keine Raumteiler aufgestellt werden, um Geheimverhandlungen zu unterbinden. Aus Sicherheitsgründen musste der gesamte Raum beim Betreten einsehbar sein, ihr Fenstervorhang mit Schnüren aus 300.000 kleinen Porzellankugeln sollte zunächst abgehangen werden – bei einem Bombenanschlag könnten diese zu 300.000 kleinen Geschoßen werden, fürchtete die Security. Am Ende hat sich Hella Jongerius durch gesetzt. Ihre Beharrlichkeit kennt keine Terrorangst.

Das Sofa "Vlinder", das Hella Jongerius für Vitra entworfen hat.
Foto: vitra.com

Wird die Welt ein besserer Ort, nur weil die Dinge schöner aussehen? "Ich hoffe doch", sagt Hella Jongerius. "Wir stellen uns mit unserer Arbeit dieser Aufgabe." Und inkludiert in ihren Schönheitsbegriff das zeitgemäße Attribut Nachhaltigkeit, die Herkulesforderung an eine ganze Branche: Wie können wir mit Möbeln den ökologischen Fußabdruck reduzieren? "Wir müssen bei allen Materialien umdenken, bei Produktionsprozessen. Da ist eine große Revolution im Gange. Alle Firmen, die ich kenne, überlegen sich, wie sie Gegenstände so herstellen, damit der Käufer sie leichter reparieren kann und nicht bei einem Schaden wegwerfen muss."

Der Wirtschaftskreislauf steht zur Debatte

Was konkret getan werden müsse? "Holz wird als nachwachsender Rohstoff aus der Region verstärkt benutzt. Kunststoffe, zu deren Herstellung Öl verwendet wird, verschwinden", zählt sie auf. "Wir müssen umdenken beim Thema Leder: Das Gerben mit Chrom gilt als umweltschädlich." Natürlich wird die Pandemie ihre Spuren hinterlassen. "Welche Stoffe können wir auf Oberflächen im öffentlichen Raum noch benutzen, ohne dass sie von den Menschen als Keimerreger abgelehnt werden?"

Kurzum: Der gesamte Wirtschaftskreislauf steht zur Debatte. Nicht erst mit der durch Corona bedingten Krise, aber vielleicht nun mit erhöhter Dringlichkeit. Im Privaten lebt Hella Jongerius diese Ökonomie bereits. Zu Hause in Berlin hat sie einen Schrank, in den sie alle Sachen packt, die sie geschenkt bekommen hat, ihr aber nicht gefallen haben oder sie nicht gebrauchen kann. "Wenn jemand Geburtstag hat oder Freunde zu Besuch kommen, öffne ich den Schrank und sage: Hier nehmt euch was raus, was euch gefällt!" Zurzeit befänden sich Decken, Vasen, Zauberwürfel drin. "Und diese Malbücher, in denen man ein Bild selbst zu Ende malen muss. Manche Leute glauben, das sei für eine Kreative genau das richtige Geschenk." (Ulf Lippitz, RONDO, 5.8.2021)