Der ORF muss sich neu aufstellen, meint Medienexperte Martin Zimper – und nennt in seinem Gastkommentar die wichtigsten Themenfelder.

Wer immer in die ORF-Generaldirektion gewählt wird, sollte sich bewusst sein: Die Zukunft dessen, was bisher Fernsehen oder Radio genannt wurde, ist in jeweils einer Audio- und Video-App oder Plattform zu sehen, die auf screenbasierten smarten Endgeräten läuft, mit denen Menschen eine zeitintensive, intime Mensch-Maschine-Beziehung eingehen. Wie viel Zeit künftig mit öffentlich-rechtlichen Inhalten verbracht wird, liegt am persönlichen Vergnügen, den Zuschauer/Hörerinnen/User an einzelnen Formaten (früher "Sendungen" genannt) haben, und an deren Vertrauen in ihre Protagonisten, seien es Journalistinnen, Moderatoren oder fiktionale Charaktere.

Hat man das einmal verstanden, ergibt sich das Programmatische für die neue Generaldirektion ab 2022 wie automatisch.

Wie wird sich der ORF künftig positionieren? Kommende Woche steht die Bestellung des Generaldirektors/der Generaldirektorin an.
Foto: Robert Newald

Die Bewegtbildstrategie hat sich nicht auf einzelne Kanäle wie ORF 1, 2, 3 oder gar ORF Sport zu konzentrieren, sondern auf die eigenständigen seriellen Formate und auf jene Personen, die für sie stehen, zu denen das Publikum Vertrauen aufbaut und mit denen es seine Zeit verbringen will. Zugekaufte US-Serien schaffen keine ORF-Bindung, da sie auf anderen Plattformen genauso konsumiert werden können und austauschbar sind.

Hat der ORF genug eigenständige serielle Formate? Deckt er mit der Summe dieser Angebote insgesamt möglichst alle Bevölkerungsgruppen ab, die Gebühren bezahlen? Gibt es erfolgreiche Programminnovationen, die weniger als zehn Jahre im Programm sind? Das Urteil darüber fällt bescheiden aus. Der ORF muss sich von einem "branded house" zu einem "house of brands" entwickeln, wobei mit "brands" eigene Serien, Sendereihen oder Magazine gemeint sind sowie ihre Präsentatoren, Moderatorinnen und Moderatoren sowie fiktionale Protagonisten.

"Hat der ORF genug eigenständige serielle Formate? Deckt er mit der Summe dieser Angebote insgesamt möglichst alle Bevölkerungsgruppen ab, die Gebühren bezahlen? Das Urteil darüber fällt bescheiden aus."

Mindestens ein linearer Kanal sollte sich auf Live-Berichterstattung konzentrieren, von Sportereignissen und Konzerten über Live-Entertainment-Shows wie Dancing Stars bis zur Liveschaltung bei politischen, chronikalen, zivilgesellschaftlichen oder kulturellen Ereignissen. Dem ORF fehlt eine eigene Plattform für alle Audioinhalte im Stil von BBC Sounds oder ARD-Audiothek, die Entwicklung von Podcasts mit eigenen Hosts (abseits eingeschränkter klassischer Radioformatierung) sowie ein Einstieg in die digitale Welt der DAB-Radios.

Die aktuelle ORF-Zukunftsdebatte kreist um eine Baustelle namens Newsroom, wobei man offenbar zuerst ein Gebäude errichtet hat und sich erst jetzt überlegt, was dort inhaltlich stattfinden soll. Wer Digitalisierung mit Zentralisierung beantwortet, hat Digitalisierung nicht verstanden. Digitale Technologien erlauben es, dass Redakteurinnen auch in Tiroler Berghütten Programm produzieren und auf Sendung gehen können. Schnelle Audio- und Videoberichterstattung in "Realtime" oder im Livemodus braucht kleine koordinierende Einheiten. Kein Medienhaus braucht Großraumbüros, in denen mehrere Redaktionen und Chefredaktionen zusammensitzen und ihren Output diskutieren, bevor er online oder on air geht.

Genau hier liegt ein Hauptproblem öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten: Aufgrund ihrer langen Unternehmensgeschichte und ihrer knöchernen Bürokratie neigen sie zu organisatorischen Matrixstrukturen, in denen unklar ist, wer eigentlich entscheidet, ja, oft sogar, wann überhaupt etwas entschieden werden wird. Diese ermüdende und demotivierende Vorgehensweise wird gerne mit demokratietheoretischen Argumenten untermauert.

Veralteter Ansatz

Öffentlich-Rechtliche in Österreich, Deutschland und der Schweiz entwickeln als Teil ihrer Überlebensstrategie eigenproduzierte Youtube-, Facebook- oder Instagram-Formate. Dieser Ansatz – vor zehn Jahren berechtigt – ist veraltet. Die Konkurrenz der Rundfunkanstalten sind heute Netflix, Amazon Prime oder Spotify. Klassische Social-Media-Kanäle sollten für den offenen Dialog mit dem Publikum genutzt werden, nicht aber als Originalausspielkanal eigenproduzierter Inhalte. Wichtige Userdaten müsste die anstaltseigene Plattform selbst generieren – etwas, was die aktuelle ORF-TVthek keineswegs auf der technischen Höhe der Zeit leistet.

In einem nächsten Schritt wäre eine Login-Allianz, also ein gemeinsamer Login für alle digitalen Produkte, mit privaten österreichischen Medienhäusern zu schmieden, wie es Schweizer Verlage und die SRG bereits vorleben. Dort investieren die Partner gemeinsam in das Media Technology Center der ETH, eine Art ausgelagerte Forschungs- und Entwicklungseinheit zum Wohle aller. Wenn dann noch der ORF die textbasierte blaue Retroseite orf.at auf seine Kernkompetenz Video und Audio umstellt, herrscht Friede mit der heimischen Verlagswelt.

Die Zukunft des ORF liegt nicht in mehr Programm, sondern in weniger, aber besserem Programm. Damit ist nicht nur die Qualität im Journalistischen gemeint, sondern auch in Bereichen wie Design, Datenvisualisierung, animierter Infografik, Storytelling, Szenografie, Studios, Sound, Musik, Verpackung und künstlerisch-kreativer Haltung. Der ORF beeinflusst durch Aufträge, Ausschreibungen und Kooperationen das Qualitätsniveau der österreichischen Kreativwirtschaft in entscheidendem Maß.

Nicht die digitale Transformation ist die größte Herausforderung, sondern die Veränderung der gesamten ORF-Unternehmenskultur mit der Etablierung kleiner, selbstständiger, entscheidungsstarker Einheiten. (Martin Zimper, 6.8.2021)