Bachmannpreis 2021: Nava Ebrahimi auf dem Bildschirm in Klagenfurt.

Foto: APA / ORF / Johannes Puch

Nach Bachmann

Ich sitze allein im abgedunkelten Wohnzimmer auf der Couch. Es ist ein sehr heißer Sonntag, und mein Mann ist mit den Kindern ins Freibad gegangen. Eigentlich wollten wir zusammen gehen, aber seit zwei Stunden bin ich Bachmannpreisträgerin.

Ständig läutet mein Telefon, ich gebe Interviews, nehme Glückwünsche entgegen, beantworte Anfragen für die kommenden Tage, Wochen, Monate. Dann plötzlich Stille. Ich strecke die Beine aus, versuche, einen Keks zu essen. Ich kann nicht. Ich vermisse die Kinder, weil ich schon jetzt weiß, dass die kommende Zeit geprägt sein wird vom Vermissen, vom schlechten Gewissen, vom Gefühl, dass sie zu kurz kommen.

Mutter sein und schreiben, das heißt immer an einer Stelle wund zu sein. Entweder es fehlen die Aufträge und Lesungen, oder es fehlt die Zeit mit den Kindern. Ich vermisse die Kinder in diesen fünf Minuten, in denen das Telefon stillsteht, und obwohl ich weiß, dass, wenn sie wieder zu Hause sind, ich nach fünf Minuten wieder die Ruhe herbeisehnen werde. "Genieß deinen Erfolg", schreiben mir viele. Ich gebe mein Bestes.

Auf der Bühne

Eine meiner ersten Lesungen mit meinem Debüt fand im Literaturhaus einer deutschen Großstadt statt. Ich las mit zwei anderen Debütant*innen, beide etwas jünger als ich, aber beide schon namhaft. Er war Krisenreporter eines großen deutschen Nachrichtenmagazins, sie ebenfalls Journalistin in Berlin, beide wirkten auf mich sehr lässig.

Ich war mit dem Zug, wie fast immer, auf den letzten Drücker angereist, um keine Sekunde länger als nötig von zu Hause weg zu sein. Die drei Wochen zuvor hatte ich mit meinen Kindern zu Hause verbracht, denn erst war der Ältere an Windpocken erkrankt, anschließend der Jüngere. Ich war schlapp, ausgehöhlt von drei Wochen nichts als Fürsorge. Drei Wochen Pusteln eincremen, Fieber messen, Wickel auflegen, Suppe kochen, Äpfel spalten, Tee einflößen.

Der Mitautor erzählte auf der Bühne eine spannende Geschichte nach der anderen. Er war perfekt vorbereitet, seine Witze saßen, seine wohldosierte Bescheidenheit, sein Bekenntnis zum Feminismus trafen genau den richtigen Nerv. Das vornehmlich weibliche Publikum lag ihm zu Füßen. Dann die Mitautorin. Sie wirkte im Scheinwerferlicht wie die coolste Person auf dem Planeten, sie war durch und durch entspannt, ließ sich von nichts aus der Ruhe bringen. Sie war völlig bei sich.

Zuletzt ich. Ich war überall, nur nicht bei mir. Ich saß auf der Bühne, vollauf damit beschäftigt, die Reste meiner Persönlichkeit zusammenzukratzen und niemanden merken zu lassen, womit ich die drei Wochen zuvor eingespannt gewesen war. Als hätte ich etwas Verbotenes, Unanständiges getan, weil ich ausschließlich Mutter gewesen war. Weil ich nichts erlebt, kaum gelesen und gar nicht geschrieben, keinen einzigen klugen Gedanken gedacht hatte.

Den Strukturen unterworfen

Ich war neu im Literaturbetrieb und ließ mich noch sehr davon beeindrucken, wie Schriftsteller*innen zu sein haben. Entweder ungebunden und abenteuerlustig oder feingeistig und hochsensibel oder schwermütig und kaum lebensfähig, in allen Fällen jedenfalls nicht in der Lage, sich um jemanden außer sich selbst zu kümmern. Irgendwie habe ich den Abend bestritten, aber ich war unzufrieden mit mir.

Heute frage ich mich, was mich damals geritten hat. Ich wünschte mir, ich hätte von meinen Komplizinnen gewusst und wir hätten uns damals schon ausgetauscht. Letztlich geht es doch immer darum: zu merken, mein Unbehagen rührt nicht daher, dass mit mir etwas nicht stimmt, sondern daher, dass ich mich gewissen Strukturen unterwerfe. Heute denke ich mir, wie schön wäre es gewesen, wenn ich thematisiert hätte, wie ich die vergangenen drei Wochen verbracht hatte.

Wie ich mich fühlte neben meinen Mitdebütant*innen. Was von einem übrig bleibt, wenn man sich längere Zeit nur um andere kümmert. Damit hätte ich nicht nur mir etwas Gutes getan, sondern auch dem vornehmlich weiblichen Publikum, denjenigen mit Kindern oder anderen Fürsorgepflichten, ob Autorinnen oder nicht – allen hätte ich etwas Erleichterung verschaffen können. Wer auf der Bühne sitzt, hat diese Macht und somit die Verantwortung.

Hinter der Fiktion

Anfang des Jahres bat mich ein Online-Feuilleton um einen Text zum Thema Schreiben und Mutterschaft. Dieses Online-Feuilleton erfährt viel Beachtung, und ich hätte gerne auf dieser Plattform veröffentlicht. Aber ich lehnte ab. Zur Begründung schrieb ich, dass ich mich derzeit in der Fiktion wohler fühle. Dass ich mich dann wenige Wochen später doch von der Herausgeberin dieser Anthologie überzeugen ließ, einen Beitrag zu liefern, ist dem geschuldet, dass ich die Mitautorinnen verehre und so gerne mit ihnen zwischen zwei Buchdeckeln verewigt werden wollte.

Und hier sitze ich nun und muss mich stellen, muss mich, meine Rolle als Schreibende und Mutter reflektieren. Erst jetzt wird mir klar, dass ich mich nicht nur wohler fühle in der Fiktion, sondern dass ich mich auch hinter ihr verberge, wie Doris Lessing es in Das goldene Notizbuch an einer Stelle ausdrückt. Mir fällt ein, dass es, als ich anfing zu schreiben, anders war: Einst setzte ich mich hin und formulierte meine Gedanken, um mir ihrer bewusster zu werden. Um mich selbst zu erforschen. Wann hat das aufgehört und warum?

Mit diesem Beitrag versuche ich, den Faden der Selbsterforschung wieder aufzunehmen. Und ehrlich zu sein. Erstens, weil kaum ein Thema mit so viel Unehrlichkeiten überdeckt ist wie die Mutterschaft. Zweitens, weil ich mich aus meiner Fiktion in die Welt des Tatsächlichen nur mit einem ordentlichen Schlag zurückkatapultieren kann.

Auf dem Schreibtisch

Ehrlich gebe ich zu, dass ich fast keinen der vielen, bestimmt sehr klugen Texte über Mutter- und Autorinnenschaft gelesen habe. Achtung, ich habe Virginia Woolfs Ein Zimmer für sich allein nicht gelesen! Schon der Titel geht an meiner Lebenswirklichkeit vorbei; ich wäre froh, ich könnte wenigstens meinen Schreibtisch von Spielzeug und Selbstgebasteltem freihalten.

Auch von Sheila Heti habe ich nichts gelesen. Meinen jüngsten Roman habe ich aus der Sicht dreier Männer geschrieben. (Die Mutter von einem der drei verfasst lediglich einen Brief an ihren Sohn, aber der macht am meisten Eindruck auf Leser*innen. Die Mutter schildert darin auch, wie herausfordernd es ist, ein Kind mit einem provozierenden, ablehnenden Charakter zu lieben.)

Meide ich das Thema Mutterschaft bewusst? Da ist ein Unbehagen. Die wenigen Beiträge zu dem Thema, die ich gelesen habe, waren sehr klug, aber ich fühle mich unbehaglich, denn mit jeder weiteren Zeile schreit mich eine Stimme an: Ihr habt Kinder bekommen, na und? Millionen Frauen tun das täglich, und die können von euren Lebensbedingungen nur träumen, also hört doch bitte einfach auf mit dem Gejammere, das interessiert wirklich niemanden!

"Mir wird klar, dass ich mich nicht nur wohler fühle in der Fiktion, sondern mich auch hinter ihr verberge." Nava Ebrahimi
Foto: APA / Clara Wildberger

Diese Stimme existiert nicht nur in meinem Kopf, sie schreit mich auch aus den Kommentarspalten unter diesen Texten an. Ja, im Vergleich geht es uns schreibenden Müttern gut. Wir haben im deutschsprachigen Raum eine verhältnismäßig zuverlässige, ordentliche, bezahlbare Kinderbetreuung, wir haben Aufträge wie diese, weil hier Anthologien wie diese erscheinen, wir haben Partner*innen, die größtenteils verinnerlicht haben, dass man sich nicht fortpflanzen oder für gemeinsame Kinder entscheiden und dann wegrennen kann. Wir können, zumindest wenn es sein muss, immer arbeiten. Vor dem Morgengrauen, nach Mitternacht, egal.

An der Supermarktkasse

Was soll eine Mutter sagen, die mit ihrem Job an der Supermarktkasse kaum über die Runden kommt, aber fixe Arbeitszeiten hat, teilweise bis 24 Uhr? Oder eine Mutter, die die PR-Abteilung eines Mineralölkonzerns leitet und deren Ehemann, Vorstand eines Dax- Unternehmens, findet, Kinder brauchten vor allem ihre Mutter? An dieser Stelle höre ich auf, Vergleiche zu ziehen, diese reichen, dabei habe ich noch nicht einmal den deutschsprachigen Raum verlassen.

Wir alle wissen, dass Vergleiche, Verweise darauf, dass es andere schwerer haben, zu nichts führen. Das seien alles Luxusprobleme, und andere hätten es viel schwerer – ließen wir diesen Einwand gelten, müssten wir dann nicht beinah den gesamten westlichen Kanon für nichtig erklären? Handelte der Großteil der Literaturgeschichte nicht vom jeher von Luxusproblemen, geschrieben von Menschen aus gehobenen Schichten mit vollen Bäuchen, aber leeren Seelen?

Schon immer waren es eben jene, die nicht um ihre körperliche Unversehrtheit bangen mussten und die es sich im Leben recht gemütlich einrichten konnten, die die Widersprüche, Konflikte, Abgründe der menschlichen Existenz reflektiert und auf Papier gebannt haben. Die Supermarktkassiererin und die PR-Chefin werden das im Fall der Mutterschaft nicht tun.

Also wir. Also ist das unsere Aufgabe. Aber woher kommt dieses Interesse, Mutterschaft als öffentliches Thema abzuwehren? Sie weiterhin im Stillen geschehen lassen zu wollen? Als etwas "ganz Natürliches", Privates, literarisch jedoch Irrelevantes? Wie kann es so stark sein, dass ich dieses Interesse sogar internalisiert habe? Hat das zuallererst damit zu tun, dass es Frauen sind, die Kinder gebären, und Frauen bis vor kurzem ohnehin in der Literatur marginal waren?

Ist es eine reine Frage der Repräsentation? Hat es etwas mit dem Bild des Schriftstellers zu tun, und dass die wenigen Frauen, die Bücher veröffentlichten, bislang oftmals kinderlos waren? Oder hat es damit zu tun, dass das Gebären und Aufziehen von Kindern eine unliterarische Tätigkeit ist? Zerstört der Gedanke an eine geplatzte Fruchtblase womöglich die Aura der Schriftstellerin? Steht der Gedanke an einen Geburtsvorgang im krassen Widerspruch zu den erleuchteten Kopfwesen, als die man uns am liebsten sieht? Ich schätze alles zusammen.

In der Tierwelt

Kinderkriegen und selbst das Aufziehen sind archaische Angelegenheiten, etwas, das uns an die Grenzen unseres Verstandes bringt, daran erinnert, dass wir Tiere sind. Wenn wir uns mit Literatur beschäftigen, wenn wir schreiben, entrücken wir der Tierwelt. Wir betrachten sie dann höchstens noch in ihrer Wildheit, Undurchdringlichkeit und schreiben dicke Wälzer, etwa über das Fliegenfischen, und diese lösen im Feuilleton regelmäßig Begeisterungsstürme aus.

Wenn wir die Natur in der Literatur zulassen, dann als etwas, das wir betrachten, das unseren Gemütszustand spiegelt, das uns Demut oder Erhabenheit spüren lässt, manchmal als etwas, gegen das wir kämpfen, aber selten als etwas, das wir sind.

Wir bewahren uns gerne die Illusion, und bis vor kurzem klappte das auch ganz gut. Aber da bin ich, eine Autorin, die beides will: Kinder haben und Bücher schreiben. Also das, was für Männer von jeher selbstverständlich war.

Aber anders als Männer es bislang größtenteils konnten, kann und will ich nicht so tun, als wären Kinder mit einem Hochbeet vergleichbar, das ich angelegt habe und für das ich nun verantwortlich bin, in dem Sinne, dass ich es hin und wieder gießen muss. Das nur am Rande Einfluss auf Leben und Schreiben ausübt. Nein. Kinder haben mein Denken verändert, meinen Blick auf die Welt, auf meine eigene Kindheit, auf meine Eltern, auf Beziehungen insgesamt.

Ich habe sie geboren, genährt, gewickelt, getragen, ich habe sie ihre ersten Schritte machen lassen, auf mich zu und von mir weg, aber das macht keinen Unterschied, denn wer glaubt, damit sei das Ärgste geschafft, der irrt. Dann geht es erst so richtig los mit einer lebenslangen Verstrickung, mit den Sorgen, Hoffnungen, Ängsten. Mit Kümmern, Dasein, Zuhören, Falschmachen, Hadern, Verzweifeln und zwischendurch Wäschewaschen, Spielzeugwegräumen, Impftermineausmachen, Freundschaftskummerwegstreicheln.

Muss ich deshalb dauernd thematisieren, dass ich Kinder habe, und möchte ich nun über nichts anderes mehr schreiben? Mitnichten. Aber ich wünsche mir, dass ich diese Seite meines Lebens nicht mehr ausblenden muss, um als Schriftstellerin weiterhin ernst genommen zu werden.

Auf der Arbeit

"Schreiben heißt, von einer sehr merkwürdigen Arbeit existieren, von der man nicht verlangen darf, dass die Gesellschaft sie als Beruf, als nützlich und notwendig anerkennt", soll Ingeborg Bachmann einmal gesagt haben. Das ändert sich nach mehreren veröffentlichten Büchern und Preisen, aber bis dahin ist es ein langer Weg.

Am Anfang des Weges steht die Herausforderung, das eigene Schreiben ernst zu nehmen. Als Arbeit anzuerkennen. Wie soll man es sonst schaffen, dem Eineinhalbjährigen, der in der Garderobe brüllt und weint und um sich schlägt, weil er heute nicht in die Krippe gehen möchte, weil er sich heute nicht von dir trennen mag, zu sagen: "Mein Liebling, du musst in die Krippe gehen, weil ich arbeiten muss."

Wie oft habe ich das andere Mütter und Väter sagen hören, aber wenn ich das über die Lippen brachte, fühlte es sich an wie eine Lüge. So achtete ich immer darauf, diesen Satz nur auszusprechen, wenn kein Erwachsener in der Nähe war. Denn niemand wartete auf mich, kein Bürogebäude, kein*e Chef*in, keine Kolleg*innen, lange Zeit wartete nicht einmal jemand auf ein Manuskript.

Mein Müssen ist ein anderes Müssen. Natürlich ist da auch das Geldverdienenmüssen. Aber dazu hätte es deutlich leichtere und schnellere Wege gegeben. Statt "Ich muss arbeiten" hätte ich meinem Sohn in der Garderobe erklären müssen: "Mein Liebling, du musst in die Krippe gehen, weil ich schreiben muss, ich muss mich in meinem Dasein als Autorin immer wieder selbst vergewissern, gerade weil es kein Bürogebäude, kein*e Chef*in, keine Kolleg*innen gibt. Wenn ich nicht schreibe, bin ich nichts, und wenn du in meiner Nähe bist, kann ich nicht schreiben, also musst du in die Krippe gehen, auch wenn du vielleicht noch zu jung dazu bist und womöglich zu den Kindern zählst, die dort Studien zufolge zu viel Cortisol ausschütten, was sie in ihrer weiteren Entwicklung nachhaltig schädigt."

In diesen Momenten wünsche ich mir oft, mein Beruf wäre es, Maschinen zu bauen. Aber nur in diesen Momenten. Sobald ich die Krippe verlassen habe, bin ich bei meinen Figuren, auf der Arbeit also. (Nava Ebrahimi, ALBUM, 7.8.2021)