Arnold Stadler, "Am siebten Tag flog ich zurück. Meine Reise zum Kilimandscharo". 23,70 Euro / 239 Seiten. S. Fischer, Frankfurt am Main 2021

In Hemingways berühmter Erzählung Schnee auf dem Kilimandscharo kommt der Held dem symbolhaften Berg erst ganz zuletzt in seiner Todesfantasie wirklich nahe, und auch Arnold Stadlers Protagonist gelangt nicht hinauf, obwohl der Kilimandscharo der Grund seiner Sieben-Tages-Reise ist.

Im Ich-Erzähler, einem Schriftsteller, mag man zu Recht Stadlers Alter Ego erblicken: Er ist im Auftrag eines Wochenmagazins unterwegs nach Tansania, um einen Reisebericht zu verfassen, der zur Tourismusmesse in Berlin erscheinen soll. Tatsächlich ist eine solche Reportage Stadlers im März 2017 in der Zeit erschienen, Titel: "Gipfel des Lebens".

Das Reiseziel durfte er sich selbst auswählen, und er musste nicht lange danach suchen, denn die ganze Kindheit über hatte er im elterlichen Speisezimmer ein Bild des Stuttgarter Malers Fritz Lang vor sich, 130 x 90 Zentimeter, das den "Kibo", den Kilimandscharo, naiv und beeindruckend zugleich darstellt. Im Vordergrund wie ein Scherenschnitt eine große Palme.

Bilder nähren bekanntlich die Sehnsucht, und in diesem Fall wird am Ende daraus ein Roman.

2017 stand Arnold Stadler genau an der Stelle, von der aus das Wohnzimmerbild von damals, das heute über seinem Schreibtisch hängt, gemalt wurde. Aber auch Stadler hat den Kilimandscharo nicht bestiegen, man muss es ja nicht den unzähligen Touristen gleichtun. "Sehen genügt mir", schrieb er in seinem Beitrag in der Zeit. So wie er eben in der Kindheit den Berg auf dem Bild angesehen hat, und zwar jeden Tag.

Bildungsroman

Der Kilimandscharo als Sehnsuchtsort.
Foto: Imago / View Stock

Wie aus einem Reisebericht aber dann ein Roman wird, den der Erzähler in der Überzeugung schreibt, dass es sein letztes Buch ist, das ist ziemlich raffiniert gemacht, obwohl oder weil der Autor seinen Protagonisten so unscheinbar erzählen lässt, obwohl oder weil der Roman ohne mitreißenden Plot ist – am Ende geht es um große Themen: Rassismus, Kolonialismus, Völkermord, den Darwin’schen "Struggle for Life", die Klimakrise, den ökologischen Fußabdruck und All-inclusive-Urlaube, alles, was uns heute im Zeitalter der Political Correctness so nachhaltig beschäftigt, ja, verstört, erst recht das Thema Flucht und Migration, das nicht ausbleiben kann, wenn die Reise dorthin geht, von wo einst die ersten Menschen aufgebrochen sind.

Ob das wirklich einen Romanstoff ergibt, darf man fragen, zumal die Handlungszeit auch nur wenige Tage bemisst, und die sind gleichsam mit dem Üblichen ausgefüllt: am Pool der African View Lodge liegen, ein kolonialgeschichtliches Heimatmuseum besuchen, an einer Safari teilnehmen und eben auf den Kilimandscharo schauen.

Augenblicksschilderungen, angereichert mit gesellschaftlichen Reflexionen und der Rückschau auf das bisherige Leben, vor allem die linke Studentenzeit nach ’68. Hier läuft ein Kurztext mit, der im Kleinen so etwas wie einen kulturgeschichtlichen Bildungsroman ergibt, autobiografisch und fragmentarisch.

Dabei ist ohne Relevanz, dass diesem Roman die zwingende Handlung fehlt, der Erzähler hat es nicht nur vorausgeahnt – gleich auf Seite 12 setzt er der scheinbaren Ereignislosigkeit entgegen: "Mein Leben hat keinen Plot. Mein Leben ist kein Thriller."

Aber das muss es ja auch nicht, und auch wenn lange wenig darin geschehen ist, hat dieses Leben immer ein klares Ziel vor Augen gehabt: den Kilimandscharo, der hat das Fernweh beflügelt, schließlich hat ihn der Erzähler ja täglich zu Hause gesehen. Und das Bild hat dafür gesorgt, "dass meine Welt schöner wurde" oder zumindest "schöner schien".

Teil europäischer Geschichte

Dass der höchste Berg Afrikas einmal "Kaiser-Wilhelm-Spitze" hieß und dass diese die höchste Erhebung des Deutschen Reiches war, klingt heute weit hergeholt, ist aber Teil europäischer Geschichte und reicht bis in die süddeutsche Provinz, wo Arnold Stadler, Jahrgang 1954, seine Kindheit und Jugendjahre verbrachte und wo er auch heute zum Teil wieder lebt.

Mit dem Bild des "Kibo", ein echtes Anlassbild, schließt sich auch ein persönlicher Lebenskreis um Fern- und Heimweh, so darf man diesen Roman nämlich auch als autobiografischen Kommentar in diese Richtung lesen.

Anders als der Maler, der sechs Monate lang im Angesicht des Kilimandscharos lebte, sei er nur sechs Tage dort gewesen, schrieb Stadler 2017 in der Zeit – aber diese Tage waren lang genug, um zu wissen, "dass die Sehnsucht nach diesem Berg, der so lange meine Zukunft war, nun in der Erinnerung mein Heimweh ist. Am siebten Tag flog ich zurück." Mit denselben Worten endet auch der Roman. (Gerhard Zeillinger, ALBUM, 8.8.2021)