Kernaussage des Buches: Richtig verstandene und in Szene gesetzte betriebliche Agilität ist eine den Betrieb entwickelnde Maßnahme.
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Die zu lösende Aufgabe heißt: Wie lässt sich die Anpassungsfähigkeit eines Unternehmens an neue Technologien und gesellschaftliche Entwicklungen so gestalten, ohne dadurch das Unternehmen in seiner Leistungsfähigkeit zu beeinträchtigen und dessen inneren Zusammenhalt zu gefährden?

Eine durchdachte Antwort auf diese Frage gibt das Buch Agilität braucht Stabilität – Mit Ambidextrie Neues schaffen und Bewährtes bewahren von Hans-Joachim Gergs und Arne Lakeit. Sie lautet: Der tatsächliche Königsweg, um wandlungsfähig und erfolgreich zu sein, ergibt sich aus der Kombination von Verändern und Bewahren. Die hoch reaktionsfähige Betriebsorganisation zur Behauptung unter dem Druck der Digitalisierung und der wachsenden Bedeutung der künstlichen Intelligenz (KI) entwickelt sich aus einer Maßnahmenkombination von Sowohl-als-auch.

Zahlreiche Untersuchungen stützen diese Richtungsweisung. Eine davon spürte dem Geheimnis der Langlebigkeit von Unternehmen nach, die sich nach mehr als 100 Jahren noch erfolgreich am Markt behaupten. Deren Erfolgsgeheimnis war nicht die Innovationsfähigkeit im Sinne von Agilität. Als Schlüssel zur Langlebigkeit erwies sich die Fähigkeit, bei aller Anpassung und Innovation als Organisation stabil und identitätsstiftend zu bleiben. Die bemerkenswerte Selbstbehauptung am Markt über so lange Jahre hinweg entwickelte sich aus der Gestaltung evolutionärer Veränderungen und Anpassungen. Die langlebigen Unternehmen folgten den Vorgaben des Begriffs, der dieses Zusammenspiel beschreibt: Ambidextrie – Neues schaffen bei gleichzeitiger Pflege des Bewährten.

Erfolgreich am Markt

Wortwörtlich bedeutet Ambidextrie Beidhändigkeit. Bezogen auf die Unternehmensführung bedeutet es, das bestehende Kerngeschäft effizient voranzutreiben und gleichzeitig innovativ neue Geschäftsfelder zu entwickeln. Konkret: Exploitation, die Nutzung von Bestehendem, mit Exploration, der Erkundung von Neuem, zu verbinden. Praktisch bedeutet das, synchrones Arbeiten auf unterschiedlichen Baustellen.

Den Studien zufolge gelingt mit dieser gezielten Kopplung die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit am zuverlässigsten. Erst die betriebliche Pflege und Nutzung des Bestehenden ermöglicht den Vorstoß in zukunftsfähige Geschäftsfelder.

Exploitation und Exploration stehen dabei in einem wechselseitigen Spannungsverhältnis. Durch die Exploitation erarbeiten Unternehmen die erforderlichen Mittel für die Exploration. Im weiteren Vorgehen verändert dann die Exploration auch das Bestehende, und das Unternehmen entwickelt sich stabil bei gleichzeitiger Wahrung seiner Identität. Dieser Kreislauf zwischen Exploitation und Exploration sichert die betriebliche Vitalität in der zunehmenden Veränderungsbeschleunigung.

Zweigleisiges Denken

In erster Linie ist Ambidextrie folglich keine Frage von Strukturen, Methoden oder Tools, sondern steht für eine betriebliche Geisteshaltung beziehungsweise Denkweise, also für ein ganz bewusst zweigleisiges Denken. Die überkommenen und gewohnten Entweder-oder-Erwägungen werden durch Ambidextrie fundiertes Denken in Richtung Sowohl-als-auch-Modus gelenkt.

Dadurch werden in das betriebliche Denken Spannungspole und Widersprüche (bewusster) einbezogen. Den vermeintlichen Widerspruch zwischen Exploitation und Exploration anzunehmen und daraus eine zukunftserschließende betriebliche Leistungsfähigkeit zu entwickeln ist die Aufgabe der Zeit, der sich Führungskräfte beziehungsweise Geschäftsleitungen zur Sicherung der Unternehmenszukunft widmen müssen.

Für die betriebsinterne Vorgehensweise bedeutet das zweierlei: zum einen, alles Bisherige und Bestehende radikal auf den Prüfstand zu stellen, als Angreifer beziehungsweise aus der Position eines innovativen Wettbewerbers heraus zu denken und zu handeln und aus dieser Perspektive das bisherige Kerngeschäft auf seine Anschlussfähigkeit an die zukünftig zu erwartenden Veränderungen infrage zu stellen; zum anderen, gleichzeitig aber das bisherige Angebot der zum betrieblichen Ertrag beitragenden Produkte und Prozesse laufend weiterzuentwickeln und zu optimieren. Betriebliches Handeln im Sinne von Ambidextrie verlangt, Agilität als Exploration und Exploitation als Stabilität zu verstehen – und beides nicht isoliert voneinander zu betrachten und auf getrennten Schienen zu betreiben, sondern als zwei sich wechselseitig belebende Antriebskräfte, aus denen sich gemeinsam die Schubkraft für die Unternehmensentwicklung aufbaut.

Evolutionäre Entwicklung

Kernaussage des Buches: Richtig verstandene und in Szene gesetzte betriebliche Agilität ist eine primär den Betrieb entwickelnde und nicht total in etwas gänzlich Neues katapultierende (revolutionäre) Maßnahme. Die federführenden Autoren sind ein erfahrener Senior Consultant im Veränderungsmanagement eines großen Autobauers sowie Lehrbeauftragter an Universitäten und ein freier Berater und Coach mit dem Hintergrund langjähriger Fach- und Führungsaufgaben sowie im Projektmanagement. Praxisbezogene Beiträge einschlägig erfahrener Autorinnen und Autoren vervollkommnen das Buch. (Hartmut Volk, 10.8.2021)