Es brauche einen "kollektiven Schutz der Solidargemeinschaft", schreibt Rechtsanwältin Rebecca Oberdorfer in ihrem Gastkommentar. Das oft vorgebrachte Argument der Eigenverantwortung nennt sie "fadenscheinig".

Bereits in den Wintermonaten ereilten uns seitens zahlreicher "Corona-Leugner" diffuse Argumente eines Zusteuerns auf ein totalitäres Regime, eine Diktatur und sohin auf die Aushebelung unseres Verfassungsstaates. Eine Diktatur wurde herbeifantasiert, mitunter begründet durch absurdeste Verschwörungstheorien – und damit gar mitunter strafrechtlich relevantes Verhalten seitens der Verschwörungstheoretiker durch diese (zum Beispiel Sachbeschädigungen, Widerstand gegen die Staatsgewalt) gerechtfertigt.

Kaum ein Thema spaltet derzeit die Bevölkerung so sehr wie die Frage einer möglichen Impfpflicht. Klar ist aber: Die Impfung hilft.
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Mit diesen und weiteren nebulosen und disqualifizierenden Verschwörungstheorien wird nun gegen die Impfung und natürlich insbesondere gegen eine Impfpflicht argumentiert. Bei den Verschwörungsanhängern handelt es sich um Entsolidarisierte, die sich aber paradoxerweise "alternativ" solidarisiert haben und eine zwischenzeitlich sehr starke Gemeinschaft begründet haben, die durch ihr Verhalten die öffentliche Sicherheit und körperliche Unversehrtheit von Bürgern, das Gesundheitswesen, die Erwerbsfreiheit (Wirtschaftsleben), das Recht auf Privat- und Familienleben oder auch das Recht auf Bildung unserer Kinder, gefährden.

Ein Bestreben vonseiten der Regierung, diesen gefährdenden Menschen Einhalt zu gebieten, lässt sich nicht erkennen. Vielmehr lässt sich aus den Aussagen unserer Politiker das ganz klare Statement entnehmen, keine Impfpflicht einführen zu wollen. Dies wird argumentiert damit, dass der Mensch die freie Entscheidung haben soll, sich impfen zu lassen oder nicht – mit dem Argument der "Eigenverantwortung". Es müsse sohin jeder mit den Konsequenzen seines eigenen Handelns leben: ein klares Statement, basierend auf dem in unserem Staat zwischenzeitig hinlänglich etablierten neoliberalen Gedankengut.

Warten auf Klarstellung

Lässt sich aber ein solcher Gedanke im Zusammenhang mit einer Pandemie tatsächlich umsetzen? Lässt sich die Pandemie tatsächlich mit Eigenverantwortung leben, oder bedarf es nicht doch eines kollektiven Schutzes der Solidargemeinschaft durch unseren Rechtsstaat? So funktioniert doch Eigenverantwortung nur dort, wo sie keine Auswirkungen auf Dritte, gegenständlich die Gefahr eines weiteren Lockdowns und der Einschränkung zahlreicher Grundrechte Unschuldiger, nach sich zieht.

Seit langem vermisse ich eine juristische Klarstellung, dass der Lockdown oder eine Impflicht zum Schutz aller gerechtfertigt war beziehungsweise ist. Ich vermisse das klare Statement, dass die Einschränkung von Grundrechten im Interesse der öffentlichen Sicherheit verfassungsrechtlich nicht nur zulässig, sondern sogar dringend angebracht ist. Die Einschränkung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit des Einzelnen, zumal eben auch kaum eine Gefahr mit der Impfung der Vakzine einhergeht, ist gegenüber dem Recht auf körperliche Unversehrtheit, der Erwerbsfreiheit, des Rechts auf Bildung sowie des Rechts auf Privat- und Familienleben des Kollektiven nachrangig und sohin verfassungsrechtlich zulässig.

Der Staat ist verantwortlich, das Kollektiv der Gesellschaft, die Solidargemeinschaft, zu schützen und kann sich nicht plötzlich mit dem fadenscheinigen Argument der Eigenverantwortung aus seiner Verantwortung ziehen: Dafür gibt es zu viele Unschuldige (Impfwillige) und Schwache (Personen, die sich nicht impfen lassen dürfen) in unserer Solidargemeinschaft.

Drohender Zorn

Nein, lieber Staat, so leicht kannst du dich nicht aus der Verantwortung ziehen und Unschuldige und Schwache durch Untätigkeit der egoistischen Entscheidung der Entsolidarisierten aussetzen! Aus Angst vor der Hysterie einer kleinen Zahl vehementer Gegner wird geschwiegen und die Interessen der Solidargemeinschaft als nachrangig erachtet. Dabei vollkommen unberücksichtigt bleibt aber die Enttäuschung und der drohende Zorn der derzeit noch brav mitspielenden Bürger, die sich solidarisch zeigen und trotz endloser Ermüdung durch den langen Lockdown mit Ausblick auf die Impfung ruhig und zuversichtlich blieben.

Wird es weiterhin eine solche Menge an impfwilligen Personen geben, oder läuft es schlussendlich nicht darauf hinaus, dass sich die Solidarisierten auch entsolidarisieren werden? Wer Zusammenhalt wünscht, muss diesen auch gewährleisten – und zwar indem nicht Nährboden geschaffen wird für Menschen, die wenig auf ein Kollektiv geben. Es muss Zuversicht geschaffen werden gegenüber denjenigen, die ein Gedankengut des Zusammenhaltens noch nicht verloren haben.

Eine Solidargemeinschaft kann sohin in ihrem Tun und Handeln nur bestärkt werden, wenn ihr Handeln belohnt wird. Belohnt dadurch, indem dem Recht des Einzelnen für das Kollektiv Grenzen gesetzt werden. Dabei handelt es sich nicht um die Aushebelung des Verfassungsstaates, sondern um den Schutz unserer Demokratie und Wertegesellschaft.

Eine demokratische Gesellschaft wird gerade daran gemessen, wie sie mit den Schwachen und Wehrlosen in ihrer Mitte umgeht. Im Kollektiv zu leben heißt auch, auf die Nächsten zu schauen, und wenn dies Einzelne nicht tun, so ist es die Aufgabe des Staates, diese Demokratie zu bewahren, darauf zu verweisen und der Toleranz gegenüber Intoleranz endgültig Einhalt zu gebieten. (Rebecca Oberdorfer, 7.8.2021)