Soziologe Hajo Holst und Sora-Senior Researcher Daniel Schönherr schreiben in ihrem Gastkommentar über die Erwerbsarbeitenden aus den unteren sozialen Klassen, die deutlich stärker unter den Folgen der Pandemie leiden.

Arbeitslosigkeit trifft die meisten ohne Vorwarnung. Die Betroffenen leiden nicht nur unter einem höheren Armutsrisiko, sondern erleben in ihren Bemühungen, wieder Arbeit zu finden, oft auch Ablehnung, Ausgrenzung und Diskriminierung. Im Unterschied zu anderen Ländern wie zum Beispiel Deutschland liest man in Österreich aber derzeit von Arbeitslosen, die es sich in der "sozialen Hängematte bequem gemacht" hätten und nicht gewillt seien, "sich wieder eingliedern zu lassen".

Ob Lagerarbeiter, Paketboten oder Kassiererinnen – sie konnten und können während der Pandemie nicht ins Homeoffice wechseln.
Foto: Corn

Selbst wenn man diese Vorurteile schnell widerlegen kann, fällt auf, dass hier über Menschen geurteilt wird, die selbst selten zu Wort kommen. Unter dem Eindruck der Corona-Pandemie zeigt sich sehr deutlich, welche Gruppen Gehör finden und welche nicht. Eltern im Homeoffice wiesen zum Beispiel schon letztes Frühjahr nachdrücklich auf ihre Überlastungen hin, und die Hilferufe von Unternehmen nach einer zügigeren Abwicklung der Finanzhilfen wurden medial rasch an die Politik weitergeleitet. Arbeitslose zählen hingegen zu jenen Gruppen, für die gilt: Man redet lieber über sie als mit ihnen. Dabei sind Zuschreibungen wie "faul", "Sozialschmarotzer" oder "selber schuld" alte Stereotype, mit deren Hilfe sich mittlere und obere Schichten nach unten hin distanzieren. Solche Klassenunterschiede werden aber nicht erst in den aktuellen Verteilungsdebatten sichtbar.

Große Klasseneffekte

Die Corona-Pandemie und die politischen Maßnahmen haben die Menschen unterschiedlich getroffen. Ein Forschungsprojekt der Universität Osnabrück hat sich mit den Folgen für die Arbeitswelt auseinandergesetzt. Die Klasseneffekte der Pandemie zeigen sich in fast allen Themenfeldern, besonders auffällig sind jedoch die Ungleichheiten in den Ansteckungsrisiken, den wirtschaftlichen Lasten und dem Zugang zum Homeoffice. Erwerbsarbeitende aus den unteren sozialen Klassen – aus Anlerntätigkeiten und Ausbildungsberufen – leiden deutlich stärker unter den Folgen der Pandemie.

Dort, wo direkt mit Menschen gearbeitet wird, haben Menschen aus nichtakademischen Berufen häufiger Sorgen vor einer Ansteckung in der Arbeit. Zugleich bewerten sie die Schutzmaßnahmen ihrer Arbeitgeber schlechter als ihre Kolleginnen und Kollegen aus den oberen Klassen. Unter den Selbstständigen und den technischen Berufen dominieren hingegen die wirtschaftlichen Effekte der Pandemie. Und auch hier sind Arbeitende aus Berufen ohne Studium stärker betroffen. Zugleich haben die unter den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern am stärksten von Corona betroffenen Dienstleistenden und Produktionsarbeitenden kaum Zugang zum pandemiebedingten Homeoffice. Für viele akademische Berufstätige stellt das Arbeiten von zu Hause hingegen eine effektive Schutzmaßnahme dar und auch eine – im Vergleich zum Arbeiten im Büro, im Pflegeheim oder in der Werkstatt – Vereinbarkeitsressource.

Auch in Österreich zeigen sich tiefgehenden Klassenunterschiede. Entgegen fast mantraartiger Beschwörungen eines "gemeinsamen Kraftakts" im letzten Jahr hat ein Drittel der Menschen das Gefühl, die Krise treffe sie härter als andere. Dahinter stehen unterschiedliche Gruppen, die ihre Arbeit bislang häufig im toten Winkel öffentlicher Wahrnehmung ausübten. Leiharbeiter und freie Dienstnehmerinnen verloren den Job, während ihre Kolleginnen und Kollegen der Stammbelegschaft in Kurzarbeit gingen.

Mehr abverlangt

Für Soloselbstständige reichten Umsatzersatz oder Härtefallfonds oft nicht aus, manche Großunternehmen konnten ihr Vermögen hingegen um mehrere Millionen Euro steigern. Reinigungskräfte und Handwerker hielten die Büros instand, während ein Großteil der Angestellten ins Homeoffice wechselte. Kassiererinnen, Zusteller und Paketboten versorgten jene im Homeoffice mit Essen und Gütern, während sich Pflegerinnen und Betreuerinnen trotz hoher Infektionsrisiken weiter um die Angehörigen kümmerten. Im letzten Jahr wurde auch deutlich: Das Bild einer Arbeiterschaft als weiße Männer im Blaumann, die in Fabriken ihre körperlich anstrengende Arbeit verrichten, ist längst nicht mehr zeitgemäß. Eine Gemeinsamkeit dieser neuen "working class" beginnt aber vielleicht bei der oben zitierten Erfahrung: dass ihnen in den letzten Monaten weit mehr abverlangt wurde als anderen.

Die Kluft zwischen "oben" und "unten" vergrößert sich, zum Vorteil der ohnehin schon Privilegierten. Vor diesem Hintergrund reihen sich die eingangs zitierten Vorurteile über Arbeitslose genauso wie Pöbel-Sager, fehlende Vermögenssteuern, einmalige Bonuszahlungen oder die späten Impfungen etwa von vor einem Jahr noch beklatschten Kassiererinnen in eine Politik ein, die die Arbeits- und Lebensbedingungen dieser Gruppen vernachlässigt. Dabei wären auch die sozialen Folgen von Corona gestaltbar.

Größere Arbeitsrisiken

Für Österreich wie für Deutschland gilt: Die öffentliche Diskussion um die oftmals schwierigen Arbeitsbedingungen und die gesellschaftliche Anerkennung der Arbeit von vulnerablen unteren Klassen muss dringend erhöht werden, um Gestaltungsräume für eine progressive Arbeitspolitik zu eröffnen. Diejenigen, die in der Pandemie mit ihrer Arbeitsleistung die Gesellschaft am Laufen halten und größere Arbeitsrisiken und Lasten zu tragen hatten, verdienen gesellschaftliche Anerkennung – aber auch armutsfeste Einkommen, sichere Beschäftigungsverhältnisse und menschenwürdige Arbeitsbedingungen. (Hajo Holst, Daniel Schönherr, 7.8.2021)