Die Rückreise der Olympionikin Kristina Timanowskaja endete nicht in Minsk, sondern via Wien in Warschau.

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Swetlana Tichanowskaja führt vom Exil aus den Widerstand an.

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Zwei Stunden hatte Anastasija Kostjugowa Zeit für ihre Flucht. Sie packte Brieftasche, Handy und Pass in ihren Rucksack, mehr nicht. Sie würde ohnehin nicht lange bleiben, denn damals, als hunderttausende Belarussinnen und Belarussen gegen den Langzeitherrscher Alexander Lukaschenko auf die Straße gingen, schien es so, als wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Diktator fällt.

Doch er blieb. Heute sagt Kostjugowa: "Es war eine Illusion zu glauben, dass wir ein 26-jähriges Regime in ein paar Tagen oder Wochen stürzen können."

Derzeit lebt Kostjugowa in der litauischen Hauptstadt Vilnius, 170 Kilometer westlich von Minsk, der Kapitale ihrer Heimat. Es fühle sich nicht nach Exil an, sagt sie dem STANDARD in einem Videogespräch. Eher wie eine lange "komandirowka", eine Geschäftsreise.

Eine Reise, die mittlerweile schon fast ein Jahr dauert. Die 28-jährige Minskerin arbeitet als Kommunikationsstrategin im Stab der Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja, die von Vilnius aus ihren Kampf gegen das Regime weiterführt. "Das ist die beste Möglichkeit, um so schnell wie möglich zurückzukehren", sagt Kostjugowa. Nicht in Lukaschenkos Land, wo ihr sofort Haft drohen würde – sondern in ein freies Belarus.

Proteste begannen vor einem Jahr

Ein Jahr ist es her, dass sich in Belarus Massenproteste an Lukaschenkos gefälschter Wiederwahl am 9. August entzündet haben. Seither schlägt der Machthaber den friedlichen Widerstand mit aller Härte nieder. Festnahmen, Folter, Tote: Allein im Vorjahr sind mehr als 35.000 Menschen zumindest kurzzeitig verhaftet worden, die Menschenrechtsorganisation Wiasna zählt 608 politische Gefangene, jeden Tag werden es mehr. Tausende Bürgerinnen und Bürger haben das Land verlassen: Oppositionspolitiker, Aktivisten, Journalisten, Sportler – zuletzt auch die Olympionikin Kristina Timanowskaja.

Es ist kein Zufall, dass gerade Litauen zu einem Schlüsselland für die belarussische Diaspora geworden ist. Die Beziehungen sind traditionell eng, in Vilnius steht außerdem die belarussische Exil-Uni European Humanities University, wo seit 2005 viele Belarussen studieren.

Kostjugowa war eine von jenen "weißen Frauen", die das Bild der weiblichen Revolution wesentlich geprägt haben. Nachdem es in Minsk den ersten Toten gegeben hatte, zogen sie in weißen Kleidern durch Minsk und steckten den Polizisten rote Rosen in ihre Schilde, umarmten sie. Ein Sicherheitsapparat, der es damals nicht wagte, die Frauen anzufassen.

Blumen gegen die Diktatur

Wenige Tage später strömten hunderttausende Menschen durch die Straßen. Fast hätten sie das Patriarchat mit ihren Waffen geschlagen, sagte Kostjugowa damals im Gespräch: Blumen gegen die Macho-Diktatur. Aber die Repressionen richteten sich immer mehr auch gegen sie. Im September klopften Maskierte an ihre Tür, durchsuchten ihre Arbeitsstelle. Kostjugowa floh nach Litauen, wo auch sie studiert hatte.

Als Pawel Latuschko das Land verlassen musste, entschied er sich für ein anderes Land in der EU: Polen. Nicht zuletzt, weil der ehemalige belarussische Kulturminister und Diplomat hier selbst vier Jahre lang als belarussischer Konsul tätig gewesen war. Zuletzt leitete Latuschko das staatliche Janka-Kupala-Theater in Minsk, bis er zu den Protesten überlief und neben Tichanowskaja zu einem der prominentesten Gesichter der Demokratiebewegung im Exil wurde. "Die Polen haben uns von Anfang an unterstützt, und sie versuchen zu helfen, wo sie können", sagt Latuschko zum STANDARD. "Wir schätzen das sehr."

Unterstützung der Nachbarn

Polen als Hüter der Demokratie, der politisch Verfolgte mit offenen Armen empfängt? So recht passt das nicht zum Programm der rechtskonservativen PiS. Aber gerade zu den östlichen Nachbarländern pflegt Polen eine enge Beziehung und unterstützt die Zivilgesellschaft schon seit Jahrzehnten – mit Studienprogrammen und Visaerleichterungen.

Allein im Vorjahr sollen Belarussen in Polen um 10.000 humanitäre Visa angesucht haben. Der belarussisch-sprachige TV-Sender Belsat, der in Belarus im Untergrund operiert? Wurde mit polnischen Geldern gegründet. Der Telegram-Kanal Nexta, den der Blogger Roman Protassewitsch mitgegründet hat? Lädt aus Warschau die Bilder von Polizeigewalt und Repressionen hoch.

Neben Polen und Litauen gibt es noch ein drittes Land, in das viele Belarussen geflohen sind: die Ukraine. Kiew warb schon früh um Flüchtlinge aus der von Lukaschenko gegängelten Minsker IT-Szene, außerdem ist die ukrainische Hauptstadt billiger als Warschau oder Vilnius. Wer sich in der zweisprachigen Ukraine für länger einrichtet, muss auch keine neue Sprache lernen.

Crackdown gegen Menschenrechtler

Anna, eine junge Menschenrechtsaktivistin aus Minsk, sitzt in ihrem frisch bezogenen Zimmer in einer Kiewer Plattenbautensiedlung und klappt den Laptop hoch. Sie sagt Sätze wie: "Der Großteil meiner Freunde ist entweder im Gefängnis oder im Exil." Oder: "Du lebst im Moment. Jeder Tag, an dem keiner deiner Freunde festgenommen wird, ist ein guter Tag." Lange wollte Anna ihr Land nicht verlassen.

Erst als der Crackdown im Sommer auch die Menschenrechtsszene erreichte, änderte sie ihre Meinung. Sie war gerade auf einer Geschäftsreise in der Ukraine, als sie im Juli entschied, nicht mehr nach Belarus zurückzukehren. Früher dachte sie, dass es die Belarussen in der Emigration viel leichter haben als im Land. "Aber jetzt weiß ich, dass das nicht stimmt." Es sind diese Schuldgefühle, die an ihr nagen, zu wenig getan zu haben, um die Lage im Land wirklich zu verändern.

Doch wie sicher fühlen sich die Exil-Belarussen überhaupt vor einem Regime, das seine Gegner selbst im Ausland jagt? In einem Kiewer Park ist diese Woche Witalij Schischow, ein Aktivist aus Belarus, erhängt aufgefunden worden. Er soll sich in den Tagen vor seinem Tod verfolgt gefühlt haben. Vom KGB? "Du bist nirgendwo mehr in Sicherheit", sagt Anna mit einer Abgeklärtheit, die unüblich ist für einen Teenager. Aber immerhin sicherer als in Belarus, wo Aktivisten früher oder später eine Razzia, eine Festnahme oder gar Haft droht, sagt sie.

Offene Morddrohungen

Den Belarussen im Exil wird mitunter ganz offen mit dem Tod gedroht. Ein Galgen baumelte zuletzt in einer Show im belarussischen Staatsfernsehen vor dem Bild des Oppositionspolitikers Pawel Latuschko, der in Warschau lebt. Nach der Entführung des Bloggers Protassewitsch aus einem Passagierflugzeug schrieb ein Abgeordneter des belarussischen Parlaments: "Latuschko wird der Nächste sein. Werft ihn in einen Kofferraum und bringt ihn nach Belarus."

Und wer noch Familienangehörige in Belarus hat, der kann sich dem Regime sowieso nirgendwo entziehen. Kostjugowa, die im Stab von Tichanowskaja arbeitet, fühlt sich auch in Vilnius verfolgt, immer wieder schießen Unbekannte Fotos von ihr. Sie zuckt die Schultern. Lukaschenko halt: "Wer einen großen Wandel will, muss Opfer bringen."

Es gibt nur einen Moment im Gespräch, in dem ihr die Stimme versagt: als sie erzählt, dass ihre Mutter seit einigen Wochen in einem belarussischen Gefängnis sitzt. (Simone Brunner, 7.8.2021)