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Die Taliban-Flagge wurde am Sonntag im Zentrum von Kundus gehisst.

Foto: AP/Abdullah Sahil

Nach der Großstadt Kundus haben die militant-islamistischen Taliban am Sonntag eine weitere Provinzhauptstadt im Norden Afghanistans eingenommen. Die Sicherheitskräfte in der benachbarten Provinz Tachar hätten sich aus der Stadt Talokan zurückgezogen, sagten hochrangige regionale Beamte am Sonntagnachmittag.

Talokan ist die dritte Provinzhauptstadt, die am Sonntag von den Taliban eingenommen wurde und die fünfte, die ihnen innerhalb von drei Tagen in die Hände fiel. Die Aufständischen haben seit dem Beginn des Abzugs der internationalen Truppen im Mai bereits weite Teile des Landes erobert.

Kundus war seit Wochen von den Taliban belagert worden. In den vergangenen zwei Tagen hatten die Islamisten ihre Angriffe aber intensiviert. Abgesehen von einer Militärbasis rund drei Kilometer vom Stadtzentrum und dem Flughafen kontrollieren die Taliban laut Reuters nun die ganze Stadt. Dorthin seien Regierungsvertreter geflüchtet. In der 370.000 Einwohner-Stadt sei Wasser und Essen inzwischen knapp. Die Menschen hielten sich in ihren Häusern versteckt.

Die afghanischen Sicherheitskräfte haben die Eroberung von Kundus durch die Taliban laut Reuters noch nicht bestätigt. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums starteten die afghanischen Truppen am Sonntag eine Offensive zur Rückeroberung wichtiger Einrichtungen in Kunduz. "Einige Gebiete, darunter jene mit den Gebäuden des nationalen Radios und Fernsehens, wurden von den terroristischen Taliban geräumt", hieß es in einer Mitteilung. Die Stadt gilt als strategisch wichtig, weil sie am Zugang zu den an Rohstoffen reichen Provinzen im Norden des Landes und in Zentralasien liegt.

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Viele Gebäude wurden bei den Gefechten verwüstet.
Foto: AP/Abdullah Sahil

Weitere Städte gefallen

Am Sonntagvormittag ist zudem die Provinzhauptstadt Sar-i Pul in der gleichnamigen Provinz an die Islamisten gefallen. Behördenvertretern zufolge haben die Taliban auch dort die wichtigsten Regierungsgebäude unter ihre Kontrolle gebracht. Alle Vertreter der Regierung hätten sich in eine Militärbasis rund einen Kilometer vom Zentrum der Stadt zurückgezogen, die belagert werde.

Ähnlich klingen auch die Berichte aus Talokan vom Sonntagnachmittag: Die Regierungskräfte hätten sich in einen Bezirk rund 40 Kilometer vom Stadtzentrum zurückgezogen, um zivile Opfer und Zerstörung zu vermeiden. Die Stadt mit etwa 260.000 Einwohnern war seit mehreren Wochen umzingelt. Immer wieder hatten die Islamisten die Außenbezirke angegriffen.

Zaranj und Sheberghan

Am Freitag war bereits die kleine Provinzhauptstadt Zaranj in Nimroz an der iranischen Grenze praktisch kampflos an die Taliban gefallen. Am Samstag folgte die Stadt Sheberghan in Jowzjan im Norden, Machtsitz des umstrittenen ehemaligen Kriegsfürsten und Ex-Vizepräsidenten Abdul Rashid Dostum, eine führende Anti-Taliban-Figur.

Die Taliban belagern noch weitere der 34 Provinzhauptstädte Afghanistan. Die Stadt Kundus war bereits 2015 und 2016 kurzzeitig von den Taliban eingenommen worden. Beide Male wurden die Islamisten aber mit US-Luftangriffen zurückgedrängt. Auch aktuell fliegen die USA Luftschläge – noch. Denn die US-Truppen sind praktisch schon abgezogen. Die US-Militärmission in Afghanistan endet am 31. August. Der Abzug ist US-Angaben zufolge zu mehr als 95 Prozent abgeschlossen.

Diskussion um Abschiebestopp nach Afghanistan

Auch in Österreich ist die Sicherheitslage in Afghanistan Thema. Bereits im Juli hatte die Regierung in Kabul alle Staaten gebeten, Rückführungen von Afghanen für drei Monate auszusetzen. Grund für das Ersuchen ist die sich seit dem Truppenabzug verschlechternde Sicherheitslage. Finnland, Schweden und Norwegen haben seither Abschiebungen in das Land ausgesetzt. Österreich hält, wie Deutschland, an Rückführungen fest – auch nach einem vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gestoppten Abschiebeflug.

Zu Wochenbeginn hatte der EGMR – mit Verweis auf die Sicherheitslage – mittels einstweiliger Verfügung die geplante Abschiebung eines abgelehnten Asylwerbers aus Österreich untersagt. Im ÖVP-geführten Innenministerium in Wien wurde der Spruch aber nur als Einzelfallbewertung und nicht als "pauschales Verbot" für Abschiebungen von Afghanen betrachtet.

Die Tiroler Landeshauptmannstellvertreterin, die Grüne Ingrid Felipe, sieht das anders. Sie glaubt, dass sich die Diskussion um einen Abschiebestopp nach Afghanistan durch die erfolgte Entscheidung des EGMR erledigt hat – und ein generelles Abschiebeverbot die logische Konsequenz sei. Man müsse sich auf internationale Experten verlassen, meinte Felipe im APA-Interview. Frauen und Mädchen jetzt nach Afghanistan zurückzuschieben, wo die Taliban immer mehr Gebiete für sich reklamieren würden, befand Felipe jedenfalls als "letztklassig". Dass Abschiebungen generell eine rote Koalitionslinie darstellen, verneinte die Grünen-Politikerin aber indirekt. Diese seien im Regierungsübereinkommen definiert. "Da steht zwar aus meiner persönlichen Warte viel zu wenig drinnen in Sachen Verbesserung. Aber es steht definitiv drinnen, dass nichts schlechter werden darf".

Bestellung ins Außenministerium

Das Thema hatte am Freitag zudem zu diplomatischen Spannungen zwischen Österreich und Afghanistan geführt. Nachdem die afghanische Botschafterin, Manizha Bakhtari, in einem Ö1-Interview um die Verlängerung des Abschiebestopps für afghanische Asylwerber mit negativem Bescheid über den Oktober hinaus gebeten hatte, wurde sie in das Wiener Außenministerium einbestellt. Dort wurde ihr dargelegt, dass eine "Aussetzung von Abschiebungen nicht zur Debatte stehe", wie eine Sprecherin des von Alexander Schallenberg (ÖVP) geführten Ministeriums gegenüber der APA festhielt. Die Diplomatin hatte in dem Ö1-Gespräch erklärt: "Wir sind nicht in der Lage, Abgeschobene aufzunehmen". (fmo, Reuters, APA, 8.8.2021)